Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)

Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)
Meine verehrungswürdige Oma. Sie hat mir gegeben was mich umtreibt im Haus.

Montag, 6. Juni 2011

Wie der Geist weht wie er will

So früh wie heute Abend war ich noch nie dran. Die Vorabendmesse in Neuffen würde um 19 Uhr beginnen und um 20 Uhr beendet sein, falls der Pfarrer seinen Predigtfluss würde bremsen können. Er wird sich verspätet haben, weil er zuvor noch Gottesdienste in seinen anderen Gemeinden gehalten hat. Fünfzehn Minuten stehe ich am Gartentor, Madame fragt wie immer nach den Zeitmarken: Wann fängt´s an, warum gehst du jetzt schon, wann bist du wieder da?
Früher als sonst sitze ich im Auto und denke nicht an die Zeitmarken. Ein Gedanke hüllt mich ein, wie eine große Fahne, der ich im Wind zu nahe gekommen bin: Was werde ich heute spielen können, wird es wieder einmal geschehen, dass ich mich während des Orgelspiels angehoben fühle, als ob eine große Hand mich hoch und in den Wind trägt, der meine Einfälle flattern und wehen lässt, ohne dass ich mich um sie bemühen muss?
Zum ersten Mal seit facebook-Gedenken habe ich eine Stereotype vieler Facebook-Freunde bedient und gepostet, was ich sogleich tun werde und welche Gedanken mich begleiten:

Ich muss zuerst erklären, wie das geht mit dem Spielen, mit dem Orgelspielen im Gottesdienst. Meist habe ich zu beginnen mit einer kurzen Intrada, einem Präludium, das eben nur so lange zu dauern hat, bis der Priester und sein Gefolge vor dem Altar stehen und der Gottesdienst mit dem Gruß an die Gemeinde beginnen soll. Zwischen Vorspiel und Eröffnung singt die Gemeinde ein Lied, das Einzugslied, begleitet von der Orgel. Ich darf also zuvor nicht aus dem Vollen schöpfen, wie im evangelischen Gottesdienst. Ich muss liturgisch gleich zur Sache kommen.
Sechs bis zehn Lieder sind es meist insgesamt, je nach Art des Gottesdienste, je nach liturgischer Vielfalt und je nach Zeit im Jahreskreis (an den Fasten- und Adventssonntagen meist etwas spärlicher und musikalisch weniger üppig). Zum Schluss spielt man wiederum ein Orgelstück. Die Gemeinde zieht aus der Kirche. Manche Besucher bleiben sitzen und hören zu. Das ist freie Orgelmusik, so wie auch während des Abendmahls, der Kommunion, wie es auf katholisch heißt. Früher sagte man dazu "sub communione" spielen, und dazu gibt es sogar Kompositionen. Ich aber improvisiere fast immer diese Musiken, Vorspiele, Zwischenspiele, Nachspiele, im Stile von Praeludien oder Meditationen, unter Verwendung eines charakteristischen Liedmotivs. Fertige Orgelstücke passen oft zeitlich nicht und treffen auch nicht die Stimmung, die ich in der jeweiligen Phase des Gottesdienstes spüre.
Der Rest der Arbeit ist Schwarzbrot: Liedbegleitung, dazu ein Vorspiel (Intonation), dann eine oder mehrere Liedstrophen. Zur Liedbegleitung gibt es ein Orgelbuch mit fix und fertigen vierstimmigen Orgelsätzen. Damit tut jedes Lied und jede Strophe jedesmal gleich, außer man zieht einzelne Stimmen auf verschiedene Manuale oder ins Pedal und registriert jeweils anders. Das ist hohe Kunst und wird in gewöhnlichen Gottesdiensten in gewöhnlichen Kirchen selten gehört.
Schon lange spiele ich nicht mehr nach dem Orgelbuch. Mir genügt das Gesangbuch in Großdruck, damit ich die Melodie und die Texte der Strophen als Orientierung sehe. Den Satz zur Liedbegleitung improvisiere ich. Das heißt, er wird jedesmal neu gestaltet, wozu natürlich ein ganzer Sack voll Bausteine, die man im Laufe des Musikerlebens gefunden hat, zur Verfügung steht: Verschiedene Stimmführungstechniken, verschiedene harmonische Wendungen, verschiedene historische Anklänge, etwa Mehrstimmigkeit des Spätmittelalters, modale Mehrstimmigkeit der Renaissance, barocke Mehrstimmigkeit wie bei J.S.Bach, modernere Mehrstimmigkeit mit Quartschichtungen, polyphonen Dissonanzen, aus dem Mittelalter entlehnten Borduntechniken,  Wechsel zwischen klassischer Vierstimmigkeit, Dreistimmigkeit, Zweistimmigkeit und Unisono-Führung (alle Stimmen dasselbe in Oktaven, gerade für eine Orgel die typische Klangausrichtung), und - häufig im katholischen Lied - romantische Harmonik des 19. Jahrhunderts mit gefühlvollen Septakkorden, Doppeldominanten und verminderten Septakkorden.
Das jeweilige Liedvorspiel soll gewöhnlich kurz gehalten werden. Ich nehme mir jedoch die Freiheit, dort, wo es zeitlich möglich ist, ein Lied etwas länger einzuspielen, in der Art des Choralvorspiels. Welche Lieder ich zu begleiten habe, erfahre ich in Neuffen fünf Minuten vor dem Gottesdienst. Das ist auch nicht schlechter als in Nürtingen, wo man die Lieder wenigstens am Tag davor mitgeteilt bekommen soll - und sich dann doch die Hälfte ändert. Ich kenne aber nahezu alle Lieder und reagiere ohne Verzug.
Insgesamt nehmen die Kirchenbesucher kaum wahr, was man musikalisch so treibt im Laufe eines Gottesdienstes. Zumindest sagen sie es praktisch nie und geben auch sonst kein Zeichen, dass sie bemerken, was und wie man spielt. Am häufigsten sind Beschwerden: Zu schnell, zu langsam, zu hoch, ohne Rücksicht auf die Gemeinde bei Zäsuren und Atemstellen, richtige, aber für falsch gehaltene Phrasierungen. Und so weiter. Fast immer sind diese Mängelrügen gegenstandslos, weil die gemeindlichen Großsprecher - von denen kommen die meisten Vorhaltungen - keine Ahnung vom Singen und erst recht nicht von Musik haben. Außerdem bemängelt die eine Gemeinde, was die andere begrüßt. Deswegen wird mein Orgelspiel im Gottesdienst fast immer zu einer Art Innenschau: Was kriege ich heute hin, was höre ich, vorgelesen oder gepredigt, das mich inspiriert, welche Eindrücke regen mich an, Wetter, Licht, Tageszeit? Was blockiert mich? Das sind meistens familiäre Dinge, die ich gerade für zwei Stunden hinter mir gelassen habe. Was ging daneben, was ist unerwartet gelungen? Nur ganz selten erkenne ich Menschen da unten, die hören können. Die bleiben dann meistens auch sitzen oder kommen sogar am Schluss kurz auf die Empore zu einem kleinen Schwätz. Oftmals sind das auch Fremde, auf der Durchreise, Kurgäste, Familienbesuch.

Mit solchen Gedanken sitze ich also am Abend des 4. Juni 2011 im Auto und zuckle nach Neuffen. Zwanzig vor Sieben bin ich schon da, entere die Kirche, sehe die leeren Bänke und bin gerade im Begriff mit einem innerlichen Naja die Empore zu besteigen: Wenigstens die schöne Orgel erwartet mich. Das 12-Register-Instrument stammt aus der Werkstatt Vleugels in Hardheim, die vor sechs Jahren sogar dem Papst ein Instrument für seine Kapelle gebaut hat:
Kaum auf der Treppe stoppt mich ein silberhelles Stimmlein. Frau B. aus dem Nachbarort, die den Lektorendienst versieht und heute auch die Mesnerin vertritt, lässt sich quer durch die leere Kirche vernehmen: Kommen Sie nur wieder runter, wir machen heute den Gottesdienst in der Seitenkapelle, weil so wenig Leute kommen. Ach ja, mal was anderes, denke ich, dann halt keine Orgel.
Die Seitenkapelle ist eine rechteckige Nische in der Größe einer Zweizimmerwohnung mit Küche und liegt zwischen Kirchenschiff und Sakristei. Als Orgel hat man mir das hauseigene Klavier an die Seite geschoben. Ganz schnell arrangiere ich mich damit, hab´s ja schon öfters so gehabt in Neuffen. Auf dem Klavier begleite ich sehr gerne. Man kann besser artikulieren und die Sänger führen, vor allem bei modischen Liedern im Schlagerrhythmus. Mit der Orgel artikuliert man nur durch rechtzeitiges Absetzen oder Portatotospiel. Das Klavier hat einfach mehr rhythmische Möglichkeiten, und das tut den Liedern gut, auch den alten, die man heute meistens viel zu schlapp dahersingt.
Liederplan für den 4./5. Juni 2011
von Pfarrer Anselm Jopp,
Frickenhausen-Neuffen
In der Sakristei zieht sich gerade die kleine Ministrantin an, ein süßes Mädele, das gleich um die Ecke wohnt. Der Pfarrer kommt kurz vor knapp, das juckt aber niemand, denn in der Kirche sind erst zwei ältere Damen erschienen, die von der Lektorin sogleich in die Kapelle gelotst werden. Mehr Besucher würden es auch nicht werden heute, weil nämlich Seniorenausflug ist, und da ist der Stamm der Kirchenbesucher über alle Berge. Ich greife den Liedzettel vom Pfarrer: Aha, wieder mal ein paar Doubletten (er will dasselbe Lied strophenweise verteilt an verschiedenen Stellen). Aber was ist denn das: Lauter 200er-Lieder, acht mal, von Nummer 228 bis 245. Ich bin geradezu elektrisiert und setze mich hinters Klavier.

Eröffnung mit Lied 228 - Christ fuhr gen Himmel - ein Hymnus aus dem 12. Jahrhundert. Modal, in edler dorischer Tonart. Ist ja klar, vorgestern war Christi Himmelfahrt. Frau B. sitzt seitlich, die beiden Damen dem Altar gegenüber, die Glocke tönt, der Pfarrer tritt ein mit der lieblichen Ministrantin, die ein liturgisch abstraktes Engelsgesicht machen kann, so wie auf alten Bildtafeln. Das gefällt mir sehr gut und bewegt mich. Es ist das Reine und das Klare, das unseren katholischen Glaubensvollzug im Gottesdienst trägt - falls man ihn nicht zersägt durch Schlagergewinsel, Kindergeschrei und Ramba Zamba, um Menschen, vor allem junge Menschen in die Kirche zu locken. Gottesdienst als Event. Das ist nicht mein Ding.
Hier sitzen sechs unterschiedliche Menschen und feiern die Heilige Messe. Eine urkatholische Situation. Eine Messe mit allem drum und dran, klar, sauber, strukturiert, unverbraucht, ohne Abstriche, wie überall auf der Welt. Jeder der Anwesenden weiß, was jetzt eine Stunde lang geschieht. Nur was der Pfarrer in seiner Predigt sagen wird, das wissen wir noch nicht.
Der Pfarrer ist kurz vor seinem achtzigsten Lebensjahr. In der Sakristei hatte er sinniert: Ich habe mein ganzes Leben noch nie einen Gottesdienst ausfallen lassen, was sollen wir tun? Ich sagte: Herr Pfarrer, das ist Ihre Entscheidung, wir sind da und stehen bereit. Mich stört es nicht, wenn wenige Leute in der Kirche sind. Als Ministrant habe ich früher hunderte Mal Frühmessen ministriert, um 6 Uhr, um 7 Uhr, an allen Werktagen, mit niemandem in der Kirche außer dem Priester und wir zwei Messdiener und vielleicht zwei, drei Kopftuchweiblein in der ersten Bank. Da sagt der Pfarrer: Wir zelebrieren!
Aus dem Himmelfahrtslied entwickle ich ein Vorspiel. Herbe Quartenharmonik auf tiefem Bordun. Das mag ich, da atmen die Jahrtausende durch den Tonsatz, da spüre ich, was abendländische Musik ist, inspiriert und generiert aus frühmittelalterlichen und antiken Strukturen des östlichen Mittelmeerraumes. Erhebend und edel.
Die drei Frauen singen wie die Staren. Der Pfarrer singt mit. Die Mini-Maus guckt wie ein Engel. Und plötzlich muss auch ich mitsingen. Das mache ich sonst nie, bin da oben zu weit weg von der Gemeinde, und ich höre dann den Gesang nicht so gut, wenn ich mich beteilige.
Lied 228, Erste Strophe
Und dann spüre ich, wie es weht, wie es mordsmäßig weht in meinem Herzen. Meine Finger spielen alleine, die Melodiebögen federn frei rhythmisch, ohne Taktmaß, so wie seit tausend Jahren, und die Sänger und mein Instrument sind eins, ungeübt und lebendig und schön. Meine Augen werden nass, ich kann nicht mehr singen, muss auf die Noten achten, damit ich den Text richtig phrasiere.

Grüß Gott, schön dass sie da sind, sagt dann der Pfarrer, gerade wollte ich sagen "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind" ... aber wir sind ja sechs. Und so wollen wir gemeinsam diesen Gottesdienst feiern, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Mit dem Heiligen Geist hatte ich vor einer Stunde noch im Facebook kokettiert: Gell, Geist? Manche werden das bemängeln, zu ironisch, macht man nicht. Ich kann aber den Geist als einzigen der drei Wesensformen der Dreieinigkeit persönlich ansprechen, weil ich ihn mir vorstellen kann, so wie ich Elektrizität spüren kann, wenn ich das Drehmoment einen Elektromotors spüre beim Versuch ihn anzuhalten.
Zum Gloria singen wir die erste Strophe von 229 - Ihr Christen, hoch erfreuet euch, der Herr fährt auf zu seinem Reich. Ich hab es nicht so mit der Himmelfahrt. Das sind naive antike und heidnische Vorstellungen, an der Nahtstelle - heute sagt man Schnittstelle - zwischen hohen Hügeln und der Lufthülle des Planeten. Für mich ohne religiöse Relevanz. Ich stelle mir anstelle des Davonfliegens lieber das Durchdringen vor. Ich liebe Vorstellungen wie Osmose, Browne´sche Molekularbewegung und Diffusion. Ich bewundere die Kunst der Mayonnaise-Zubereitung, bei der sich sträubende Substanzen durch sensible Behandlung zu einer neuen Qualität verbinden. Ich liebe Legierungen und Lösungen, Homogenisierung und Teige und das Entstehen neuer Qualitäten durch Synthese. Dennoch, diese Vertikale der Himmelfahrt hat auch etwas, weil sie ja keinen Endpunkt markiert: Da steigt der Sohn empor zum Vater, und der gießt den Geist zurück, und so werden die Lebewesen der Erde berührt und entflammt vom ewigen Auf und Ab der Schöpfung, werden zu Teilhabern dieser Art Aufzug, den man bautechnisch nicht ohne Tiefsinn Paternoster nennt. Die Engländer sagen elevatorElevare, lateinisch, heißt heraushebennach oben heben.





Lied 229, erste Strophe
229 ist ein schlichtes aber schönes Lied, ganz in der Art der Blütezeit des klassischen Chorals aus dem 16. Jahrhundert. Vier Zeilen, vier Phrasen, A - A´ - A´´ - A´´´, noch ohne die geschlossene Form A - A- B - A´, wie zum Beispiel Nun danket alle Gott. Ich begleite klassisch, Akkord für Akkord, Note gegen Note, mit braver Kurzmodulation in die Dominante in der dritten Phrase.

Dann kommt die erste Schriftlesung. Frau B. liest aus der Apostelgeschichte, erstes Kapitel. Die Jünger Jesu harren im Obergemach eines Hauses in Jerusalem, zusammen mit den Frauen um Jesus, vereint im Gebet. Vermutlich eine Momentaufnahme, die Lukas zu einem Zustand ausbreitet. Danach Lied 241 - Komm, Heilger Geist, der Leben schafft. Und spätestens jetzt fällt bei mir der Groschen: Der Pfarrer zieht die Pfingstthematik um eine Woche vor, warum auch immer. Himmelfahrt und Geistausschüttung sieht er ineins, dieser Gottesdienst schafft den Zusammenhang.
Der berühmteste und wohl älteste unter den überlieferten lateinischen Hymnen ist Veni, Creator Spiritus, gedichtet von Hrabanus Maurus, zur Zeit Karls des Großen (ca. 800 !!), geläufig unter Komm, Schöpfer Geist (Heinrich Bone, 19. Jhdt.). Die gregorianische Melodie dürfte gleich alt sein, ist aber erst 150 Jahre später belegt:
Lied 240, lat. Original zu Lied 241
Eine wörtliche Übertragung von Martin Bachmeier:

Komm, Schöpfer Geist, die Gesinnungen der Deinen besuche;
erfülle mit oberer Gnade die Herzen, die Du geschaffen hast!

Der Du der Beistand genannt wirst, des höchsten Gottes Geschenk,
lebendige Quelle, Feuer, Liebe und geistliche Salbung.

Du Siebengestaltiger im Amt, Finger der väterlichen Rechten,
Du nach heiligem Brauch Versprochenes des Vaters, mit Rede bereichernd die Kehlen.

Zünd’ an das Licht den Sinnen, gieß’ ein die Liebe den Herzen,
das Schwache unseres Leibes stärkend durch ununterbrochene Tugend!

Mögest den Feind weiter zurückstoßen und den Frieden sofort schenken!
Mit Dir so als vorausgehendem Lotsen mögen wir alles Schädliche meiden!

Gib, dass wir durch Dich den Vater verstehen und auch den Sohn erkennen
und an Dich, beider Geist, zu jeder Zeit glauben!

Gott, dem Vater, sei Ehre und dem Sohn, der von den Toten
auferstanden ist, und auch dem Beistand in die Zeitalter der Zeitalter!

Und hier eine dreistimmige Komposition von Magister Perotinus aus der Kirche Nôtre Dame in Paris, ca. 1200, Anfänge der Mehrstimmigkeit in Europa. Die Hymnusstimme wird von zwei anderen Stimmen umspielt. Es entstehen Konsonanzen und Dissonanzen, die sich immer wieder am Ende der Zeile in die Oktave auflösen ("herbe" Mehrstimmigkeit, auf der Orgel exzellent nachzuempfinden):

Mit einem Schlag wird mir wieder bewusst, was, wer der Geist ist. Er ist die göttliche Kraft, die erschafft, verwandelt, bewegt, überrollt, trocken legt und neu bewässert. Das Kraftwerk Gottes. Gott selbst als Kraftwerk. Wir Menschen können uns die kompakte Universialität Gottes nicht vorstellen. Wir zerlegen sie in drei leichter fassbare Personen, die doch nur einer sind und eine IST. So wie wir den Raum in Länge, Breite und Höhe zerlegen, die aber je einzeln nicht die Fülle beschreiben können, die der Raum selber ist.
Jetzt hat er mich berührt, der Geist. Und ich sitze doch nur an einem Klavier neben drei Frauen, einer aufknospenden kindlichen Schönheit und einem alten Pfarrer, der mich schon seit 1960 kennt, als ich, sechzehnjährig, ihm in seinem VW-Käfer auf die Dörfer zu folgen hatte, wo er in der Diaspora, die er alsbald kräftig entwickelt und aufgebaut hat,  seine Messen las. Hallo, Geist, denke ich schüchtern und lasse den Hymnus perlen. Eine geniale Melodie, ohne Notenwerte notiert, frei rhythmisch atmend, Zwilling der atmenden Seele, die im Ein und Aus strömt und stockt, horcht und singt. Zwei Strophen nur, und dann kommt das Evangelium.

Johannes 17, 1-11a. Oh Gott, denke ich, Johannes, das Evangelium ohne jede historische Güte, reine, bereits vom Hellenismus geprägte Theologie, schon ordentlich abgehoben vom Original aus Galiläa, als Jesus noch mit den Pharisäern diskutiert hatte über die rechte Art, die Gesetze der Thora mit menschlicher Vernunft und der kindlichen Liebe zum Vatergott ineins zu bringen und so das Leben zu ermöglichen.
Der Pfarrer meint, er wolle nur kurz was dazu sagen. Es wird aber doch etwas mehr, weil ihn die Begeisterung mitnimmt, und da kappt er gleich jeder wissenschaftlichen Textkritik die Spitze: Hier fasst Johannes die Kernaussagen Jesu zu einer Rede zusammen, ein literarischer Kunstgriff. Richtig, in der Tat, diese so genannte Abschieds- oder Vermächtnisrede Jesu ist so nie gehalten worden, sie ist reine Literatur. Damit kann aber ihr Inhalt nicht in Frage gestellt werden, ebensowenig, wie man erwarten darf, dass ein schriftliches Testament die komplette Biografie eines Verstorbenen aufblättert - aber eben doch seine Grundlinien offenlegt.
Und das sagt ein alter Pfarrer, der nicht im Verdacht steht, modische Theologenhüte zu tragen. Diese Sätze im 17. Johannes-Kapitel sind wie ein Grundgesetz. Reine Theologie, mit 80-jährigem Abstand zum realen Leben Jesu. Eine Deutung, eine Ausdeutung, eine Systematisierung. Meine Gedanken purzeln herab, parallel zur Predigt. So redet niemand über sich selbst: Vater, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche. Und das folgt in diesem Johannes-Text immerfort, in mehreren Varianten, als ob Johannes um die treffendste Benennung dessen ränge, was in ihm ist und sich nicht dem schlichten Wort fügen will, das alleine zur Verkündigung für viele taugt. Aber kann damit nicht gemeint sein: Zwischen mir Mensch und dir Gott sind kraftvolle Felder, wie die der durchflossenen Spule, die den Elektromotor mir aus den Händen treibt, wenn ich ihn anhalten will, und ich stoße empor zu dir, und du schickst deinen Strahl nach unten, will sagen zu uns, denn wo ist oben und unten in der Raumzeit? Und dieser Strahl versiegt nie, wie Franz Werfel dichtete (bald im BLOG), und in dieses Spannungsfeld durch uns und mit uns und in uns wird der Raum der Schöpfung aufgespannt, deine Idee des immerwährenden Seins, aus dem alles ist, das du selber bist, und wir mit dir, aus dir, von dir und in dir. Ich nehme an (im doppelten Wortsinn), dass Jesus solche Worte nie verkündet hat, dass aber alles, was er tagtäglich tat und sagte, im Alltag, in der Synagoge, im Gespräch, als Kommentar, als Bemerkung, ironisch wohl oft, und bissig manchmal oder provokant, sich auf diesen Nenner bringen lassen kann, den der Schriftsteller Johannes literarisch gestaltet, um ihm verbindliche Größe zu geben.
Diese Einsicht fliegt mir in diesem Moment zu! Unerwartet, unverhofft, unvorbereitet, geradezu stürmisch, erhellend und reinigend.
Der Pfarrer kommt in Fahrt. Ewiges Leben, sagt er, ewiges Leben umschreibt keine Dauer, keinen Anfang und Ende, keinen Verlauf. Ich sitze senkrecht, denn diese Fragen habe ich schon zig Pfarrern gestellt. Pfarrerinnen noch nicht. Und immer haben sie sich gewunden und entzogen, wie ein glitschiger Fisch, dem das Wasser genügt, weil er von Erde, Luft, und Feuer nichts wissen will. Ewiges Leben, sagt der Pafrrer, ewiges Leben bedeutet, Anteil bekommen am Leben des Ewigen. Für mich heißt das wiederum nichts anderes als geöffnet werden dürfen für die Erkenntnis des Großen Ganzen, erfahren, was die Mystiker Schauen genannt haben. Und Jesus ist der bäuerliche, naive, glaubwürdige Mittler dieser einfachen Art, mit und in Gott zu sein, ohne Theologie, ohne Konstrukte, einfach im Hinatmen zu dem, was uns anatmet, aus allen Enden und Ecken, oft und manchmal auch nicht, verstellt und offen, Sehnsucht anzündend und Resignation hinterlassend, aber virulent und vital, ohne Kenntnis vom Wann, vom Wo und vom Wie, ohne Gewähr oder gar Sicherheiten, wie die Banker sagen. So wie jetzt. In dieser Stunde!
Heiliger Geist, was tust du? Was tust du, durch und mit diesen fünf Menschen, die mit mir hier sind, beim Vollzug des Mysteriums vom Teilen des Lebens, von Fortpflanzen und Zellteilen, von Sterben und Hingeben der Trägermoleküle, vom Wettern und Verwittern, indem der Pfarrer nämlich gleich sagen wird: Das ist mein Leib, das ist mein Blut, nehmt es als Bekräftigung, dass es so ist, und als Kräftigung, auf diesem holprigen Weg nicht aufzugeben. Nach dem Gottesdienst wird er sagen: Morgen habe ich drei Taufen, es kommen wieder Kinder, wie schön!
Und dann zitiert er seinen Namenspatron, Anselm von Canterbury, einen Piemonteser, der später in England wirkte, zur selben Zeit als der Hymnus Veni Creator populär geworden war. Von Anselmus, Kirchenlehrer und heilig gesprochen, stammen ein paar Kernsätze, die die abendländische Theologie und Philosophie maßgeblich beeinflusst haben. Der Pfarrer zitiert den ersten:
Fides Quaerens Intellectum - Der Glaube ist auf der Suche nach Einsicht (Verständnis, Einklang mit der Vernunft).
Es wird mir, als ob eine Spange um mein Herz zerspringe: Danach habe ich immer gesucht und gefragt, damit bin ich immer abgeblitzt bei den Predigern und Theologen. Meine Bitte, Kann man denn nicht glauben ohne den Verstand zuhause lassen zu müssen? haben sie mit Gelaber und Versatzstücken beantwortet wie Glauben heißt nicht wissen. Was für ein Blödsinn! Was ist mir ein Glaube, der Augen zu, Ohren zu, Mund zu voraussetzt. Wozu nützt ein Glaube, der blutleere Weisheiten aufzählt, der seine Glaubenden zu Marionetten des Überichs macht, gesteuert von Autoritäten, die dadurch ihre Pfründe sichern?
Zuhause suche ich nach Anselmus und finde zwei weitere Sätze:
Credo ut intelligam - Ich glaube, damit ich begreife,
und Anselms Ansatz zum ontologischen Gottesbeweis:
Aliquid quo maius nihil cogitari potest -  Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.

Endlich! Ich bin zu unbelesen, um über diese Sätze urteilen zu können. Aber sie dringen mir ins Herz, als ob ich auf sie gewartet hätte. Und ich weiß, dass auch sie sich verwandeln werden und mir nicht als eherne Türsteher dienen werden.

Der Pfarrer spricht weiter: Jesus predigt nicht den individuellen Weg. "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind" ist keine elitäre Beschränkung. Diese Zahlen sind keine Nummern sondern eine Andeutung, so verstehe ich jetzt: Spielbar schon in kleinster Besetzung, wie die Musiker sagen, aber auch im Tutti. Der Weg, sagt der Pfarrer, gehe in drei parallelen Spuren: aus dem  Gebet, durch die Sakramente und in Gemeinschaft.

Jetzt eilt der Gottesdienst nur so vorüber. Lauter Lieder vom Heiligen Geist, zum Heiligen Geist. Bis zum Schluss. Ich mache ein Nachspiel, das mir förmlich zufliegt: Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein! Der Pfarrer zieht aus mit dem ministrierenden Engel, Frau B. räumt sofort den Altar auf, und die beiden Damen gehen schwerfällig an meinem Klavier vorbei. Sie nicken mir freundlich zu und streben zum Ausgang. Ich könnte mich jetzt verlieren in Variationen aus der Tonart G-Dur. Zwei Minuten noch, dann schließe ich. Mit dem tiefen G. Noch beim Schließen des Deckels klingt der Ton im Kirchenraum nach.
Ein kurzes Tschüss in der Sakristei. Der Pfarrer ist schon auf und davon, das Engelchen hängt seine Kutte in den Schrank. Frau B. wuselt hier und dort. Und dann steige ich ins Auto.

Was war das?

Hergefahren bin ich mit dem Gedanken, vielleicht gelingt mir mal wieder was auf der Orgel, mit dem ich zufrieden bin. Vielleicht inspiriert mich was. Und der Geist hat mich geradezu überfallen, eine Woche vor Pfingsten, hat mir eingeschenkt bis zum Überlaufen. Er hat nicht gewartet. Weil er weht, wann, wo und wie er will. Und schon weht er woanders. Alles ist wie zuvor. Nur drinnen, da glimmt etwas und wartet, bis der nächste Anhauch die Flammen wieder aufzüngeln lässt.
Danke, Geist!

1 Kommentar:

  1. Danke, Reinmar. Das war wunderbar zu lesen...Ich spüre selbst so was wie einen kleinen "Flug"..:-) Anita aus dem Wald

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