Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)

Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)
Meine verehrungswürdige Oma. Sie hat mir gegeben was mich umtreibt im Haus.

Samstag, 24. Dezember 2011

Das fühlt man, tief drinnen!

Horst Krause heißt Horst Krause im Film wie im richtigen Leben. Der brandenburgische Schauspieler ist durch sein Rolle des gleichnamigen Polizeiwachtmeisters Krause berühmt geworden. Im zweiten seiner Familienfilme [Krauses Braut, 2011] kommt es zum Streit mit seiner Schwester Meta. Die will Krauses Kurbekanntschaft Rudi heiraten [Krauses Kur, 2009] und spricht von Bestimmung. Da hebt Krause erregt seine Stimme und doziert: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Er lässt keine Sekunde Zeit zum Überlegen,  stößt mit zwei Fingern immer wieder gegen seine Brust und gibt selbst die Antwort: Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Horst Krause als Horst Krause mit seinen ledigen Filmschwestern.
Von links: Meta, Horst, Elsa (Google-Bild).

Vor wenigen Tagen habe ich das im Fernsehen erlebt. Nicht gesehen. Erlebt. Es hat mich geradezu aufgeweckt. Da weist mir das Drehbuch einer Familienkomödie einen möglichen Weg durch meinen Gedankendschungel. Gibt mir keine Antwort, sondern zeigt mir eine Tür, hinter der sie sein könnte, die Antwort, die Lösung. Besser als Lösung wäre: die Einsicht, die Erkenntnis oder die Ruhe für meine Gedanken.

Im Advent macht man Türchen auf. Man lässt sich jeden Tag überraschen, obwohl man weiß, was heraus kommt, wie die Kinder sagen. Nach dem Krieg waren es transparente Bildchen, die vor einer Kerze zu leuchten begannen. Am 24. Dezember das große Türchen mit dem Jesuskind in der Krippe. Heute sind es Schokokügelchen von Lindt. Hat mir meine groß gewordene Anna geschenkt. Oder Zettelchen mit klugen und milden Sprüchen. Und in der Stadt machen sie sogar lebendige Adventskalender.

Schon als Kind wollte ich den Adventskalender nicht missen. Aber seine fehlende Tiefe hat mich enttäuscht. Denn hinter den Türchen war nichts, räumlich gesehen. Nur Zellophanpapier.  So wie auf den Vorlagebildern meines Steinbaukastens: Die Mauern standen ohne Raumtiefe auf dem Papier. Zweidimensionale Fassaden in Blau, Rot und Gelb.

Wie oft habe ich seither die Weihnachtsgeschichte gehört, sie erzählt, musiziert oder gespielt? Gerade vierzig Mal, oder fünfzig. Nicht viel. Aber es hat sich von Mal zu Mal etwas verschoben, geändert, umgestülpt. Das mag ich eigentlich nicht. Ich hätte es gerne stabil, geborgen und sicher. So wie ein Heiligabend. Ein Idyll ohne Zeitlimit, mit Kerzenschein und wohlwollenden Gesichtern. Heute fürchte ich das Idyll. Es ist künstlich und ich weiß nie, wann die Spannungen zwischen den Angehörigen wie Beulen aufbrechen  - dieses ekelhafte Wort, so bescheuert wie Familienmitglieder.

In den Weihnachtsliedern habe ich mir das Idyll bewahrt. Eine ganze Reihe davon darf ich morgen Abend in der Christmette spielen, als Organist meiner Gemeinde. Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein macht mich glücklich beim Spielen (die Kurzwendung zur Dominante bereits in der ersten Zeile, von F-Dur nach C, erlebe ich wie eine Metamorphose, Strophe für Strophe), Es ist ein Ros entsprungen versunken und selig (Die Tonwiederholung zu Beginn sind dem Nun danket alle Gott frappierend ähnlich: Zum selben Ton verschiebt sich die Harmonik tektonisch). Zum Schluss kommen Oh, du fröhliche und schließlich Stille Nacht. Diese beiden Lieder stehen nicht im katholischen Gesangbuch, Stille Nacht wenigstens als Gedicht. So, als ob das, was die Menschen bewegt, das theologische Examen nicht bestanden hätte. Ich spiele beide Lieder für die Menschen, die an Heiligabend auf der Empore bis zu meinem Spieltisch stehen. Und sie brauchen kein Gesangbuch, keine Vorlage um selig zu sein, in diesem  Moment. Manche strahlen, einigen versagt die Stimme und einige heulen. Und ich bade sie in einem Strom von Wohlklang, den ich noch vor 40 Jahren zum Kotzen fand. Weil ich die Fassade nicht mochte. Ich wollte Substanz. Wahres statt Gesetze.

Psychologen sagen, Weihnachten sei das Fest der Familienkonflikte. In der Tat, schon als Bub habe ich das Missverhältnis zwischen Alltag und Heiligabend gespürt, habe gezweifelt an diesen Ebenen brüchiger Echtheit, die von den Eltern ausgebreitet worden sind. Heute so, morgen so, und gestern war wieder alles ganz anders. Ich habe aber auch gemerkt, dass ein unsägliches Sehnen und Hoffen aus allen Herzen und Gesichtern gesprudelt ist. Harmoniebedürfnis, ja, Harmoniesucht nennt man das heute, als ob dadurch mehr getan wäre als eben ein Etikett beschrieben. Und ich wusste nicht warum das so ist. Als Student haben wir Weihnachten den Kragen rum gedreht, sind rechtzeitig auf eine Hütte verschwunden, haben vier Tage lang gesoffen und Skat gespielt und danach siegessicher festgestellt: War was? Es war nichts. Alles bleibt beim Alten. Verlogenes Establishment.

Ich glaube nicht, dass die Leute deswegen heulen. Sie heulen, und ich heule, weil eine Fassade weggezogen wird wie ein Vorhang. Aber was tut sich dahinter auf?

Die Wirren der Familie, die Abweichungen von der Norm sind ein gewaltiger Plot, wie die Drehbuchschreiber sagen. Bernd Böhlich spielt als Drehbuchautor und Regisseur der Krause-Filme damit virtuos. Und Peter von Matt, der Schweizer Literaturwissenschaftler, sagt, Literatur habe nur ein einziges Thema. Prosa und Lyrik, Bühne und Film kennen nur dieses eine zentrale Thema, sagt er beschwörend: Den Familienkonflikt, die Spannungen und Dreiecksgeschichten, die Erziehungsproblem, die Eifersucht, den Hass der von der Liebe übrig geblieben ist, Verzweiflung, Rache, Versöhnung und Vernichtung.

Da hat Lukas einen Gegenentwurf verfasst, der die westliche Welt anrührt bis heute. Die Heilige Familie mit Vater, Mutter, Kind, mit Nachbarn, Stallvieh und großen Tieren, hohem Besuch aus Arabien und Afrika. Keine Probleme, nur heile Welt? Freilich, es gibt Probleme, die liegen aber da draußen, in den Bedingungen, im Bühnenbild, nicht in den Herzen: Keine Herberge, kein Bett, Stallwärme nur von schnaufenden Tieren.

So habe ich Weihnachten kennen gelernt, kurz nach 1945, als es buchstäblich nichts zu fressen gab und die Eltern und Großeltern die Seligkeit aus Nichts inszenierten. Innen drin jedoch stimmt alles: Vater, Mutter, Kind, Nachbarn. Harmonie satt. Und Glück und Zufriedenheit. [Ich muss nachtragen: Dass Oma und Opa, Mutter und Vater damals am Boden schleiften, weil ihre Zukunft verbrannt, die Kassen leer und das einzige Kapital die Hoffnung auf Besserung war, das habe ich nicht merken können. Die Großen haben es nur durch Tränen mitgeteilt, und ich dachte, sie weinten vor Glück. Bald habe ich gemerkt, dass die Oma tief verletzt war, durch den Krieg und den Verlust ihres Sohnes, gerade mal vier Jahre her. Meine Oma sieht man in diesem Blog ganz oben: Mein Engel auf Erden und hoffentlich auch im Himmel. Als sie im Sarg lag, habe ich die katholische Tante Anna gefragt, ob die Oma jetzt im Himmel sei. Da hat die Papistin mit wichtiger Miene gesagt, das wisse sie nicht. Oma war nämlich evangelisch getauft und von Beruf die Liebe. Ab da wusste ich, dass etwas nicht stimmen kann. Ich war 18. ]

Und so viel Wonne ist im Stall von Bethlehem, dass die Engelein auf dem Stallgiebel jubilieren und jauchzen. Das ist zwar nicht von Lukas, aber das ist draus geworden. So wie das große Fressen, und wenn mir der Gabenteppich unterm Christbaum wie ausgekotzte Überflüssigkeiten erscheint, und nach 17 Päckchen die Tochter meint: Papa, etwas wenig! dann sitze ich in der Krise. Das Mädele hielt Weihnachten für einen ewigen Fluss von Überraschungen. Und damit liegt sie sogar goldrichtig. Die Überraschungen liegen aber nicht vor uns sondern in uns.

Mir gefällt Weihnachten sehr, aber es hält nicht an. Es besitzt keine Nachhaltigkeit, wie man heute sagt. Für mich ist es nicht nachhaltig. Weil mir diese trauten Bilder eine Antwort auf meine zentrale Frage zu verbauen scheinen. Die will ich gleich und unverblümt nennen. Sie ist ebenso unersättlich wie die Augen des Kindes, nachdem alle Päckchen ausgepackt sind, die offensichtlich noch nicht das Kind gesättigt haben, weil es nicht das bekommen hat, was sein Sehnen stillen könnte. Und so entscheidet sich Weihnachten tatsächlich unterm Tannenbaum. Es wird ent-schieden: Weg mit dem Tand, der an die Stelle des Eigentlichen gerückt ist - aber wo liegt es, das Eigentliche?

Meine Frage lautet:
Was ist das für ein Gott, der irgendwo sitzt und von irgendwoher einen Sohn auf die Erde schickt, ihn vor Ort einer 14-Jährigen namens Maria in den Schoß legt, um diesen nach 33 Jahren für meine Sünden schlachten zu lassen? Woran kann ich glauben, ohne in einem Netz von Theologismen kleben zu bleiben, in dem man sich ebenso verfangen kann wie im Netz aus Konsum und Gier?

Ich drehe und wende es wie ich will und finde nur diese Antwort: Ein solcher Gott ist ein von Menschen gemachter Außengott. Ein antiker Olympier, der irdische Mägdelein erwählt, die ihm ein Kind schenken. Halbgötter nannte man damals diese Kinder, und es gab viele davon. Konstrukte des bewundernden Hinaufschauens. Jesus, so sagen die Evangelisten indirekt, war der erste konkrete Halbgott, einer zum Anfassen, einer der tatsächlich und überzeugend das Reich Gottes auf Erden erwartete. Überzeugend für die die Denkwelt der Antike, meine ich, aber nicht ausreichend für meine Welt. Weil ich sonst 2000 Jahre Entwicklung negieren müsste. Für mich sind "Sterne nicht mehr Löcher im Himmel" - wo habe ich das gelesen? Und wenn was dran ist am Evangelium, dann kann es nicht durch kanonisierte (unverrückbar festgeschriebene) antike Denkmodelle überzeugen. Aber genau das verlangt meine Kirche, und ihre Protagonsiten hüllen sich dazu in die Gewänder der drei Weisen aus dem Morgenlande, in roten Schuhen und unter Goldkronen.

Kann man Mythen lebendig werden, materialisieren, geradezu gerinnen lassen? Zweifeln nicht schon Kinder am Nikolaus in concreto, obwohl sie seine Geschichte gerne hören und er im Reich ihrer Vorstellung ein beachtliche Rolle spielen kann. Kein Wunder, dass sich alle Welt diesen Gott als Person vorstellt, mit mächtiger, großer, unnahbarer Gestalt. Ein Abbild des eigenen Vaters, in dem die Mutter nicht mehr vorkommt, ein Gesetzeschreiber und Richter, ein Weltenherrscher, der alle zermalmt und dennoch als Inbegriff der Liebe gelten soll? Eine von mir getrennte Person, und doch ein Du, wie es die Pfarrer predigen, ein personaler Gott, der mir nachläuft, aus Liebe, und vor dem ich doch nur Angst habe? Der so weit weg ist, dass ich als ungenügendes Gegenüber auf sein Wohlwollen angewiesen bin, das ich mir aber erst verdienen muss. Und wenn ich das schon nicht kann, dann wenigstens über den Opfertod dessen geschenkt bekomme, der einmal ein Jesulein war, jetzt aber zum Lamm Gottes ausgewachsen ist, das geschlachtet wird, für mich, was mir großmütig gewährt wird, aus Gnade (Wofür, denn wem habe ich etwas angetan, außer dass der mich ins Leben gerufen haben soll, der mich bereits auf die Knie zwingt, wenn die Nabelschnur noch nicht durchschnitten ist?), ich, eine von der Erbsünde belastete Null, schon böse und korrekturbedürftig bei Geburt (welch menschenverachtendes, widerliches Konstrukt!) - eine Fehlgeburt, wie Paulus sich selber nannte, dieser eifernde, pharisäische Skrupulant und Konstrukteur eines theologischen Erlösungsgebäudes, der das Reich Gottes ins Kommende verlegt, weil es hienieden ausgeblieben ist. Bin ich das: Ein Gefallener, bevor ich auch noch auf den Beinen war? Und schon als Bub habe ich bei der Kreuzwegandacht geweint, weil ich mich so schämte, dass der arme Herr Jesus nun für mich und meine Sünden gekreuzigt wird.

Ich sage es frei: Mit diesen Vorstellungen breche ich nun. Ich ecke damit an, nicht nur bei den theologischen Lehrern und ihren Lehren (die sind interessant aber mir relativ wurscht, solange sie nicht aus dem Hamsterrad hinaus führen), ich ecke an, zwischen dogmatischen Wänden eingesperrt in eine Betonzelle, in der ich mich wund toben kann oder resignieren, aus der ich aber nicht entkomme zur Freiheit des Lichts, des Geistes, der Wahrheit! Und jetzt ist wieder Polizeiwachtmeister Krause dran: Das ist tief drinnen, da drin!

Und plötzlich rücken die antiken Bilder der Religiosität vor 2000 Jahren auf den Platz, wo sie hingehören, achtbar, aber eben nur grandiose Stationen einer fortwährenden Metamorphose, die nicht diesen Bildern widerfährt, die aus diesen Bildern sich verändert und umformt, bis zu mir (und was sie werden, wenn ich nicht mehr hier bin, kann ich allenfalls ahnen): Auf ihre historischen Podeste gehören die Bilder, als Zeugnis vergangener Denkweisen und Vorstellungswelten.

Und ich komme auf den Punkt. Gott ist nicht irgendwo, wo er alles hört, weiß und notiert. Er ist in mir. Sonst hätte das Wort vom Fleisch-Werden des Logos keinen Sinn. Diesen Sinn muss ich in mir finden, Woanders erreicht er mich nicht. Das Brot des Lebens macht mich nicht satt in der Hand des Priesters. Erst wenn es in mir ist kann es sättigen. Nur in mir kann ich Gott finden. Er ist nicht vor 2000 Jahren in die Welt gekommen. Er kommt ständig in die Welt. Er ist die Welt. Er wird Mensch in mir und ist Ich (nicht ich bin Gott, sondern er ist bereits, was ich werden kann, wenn ich ihn zulasse, in mir lasse, ihn dort suche.) Er west in mir und in allen Dingen. Und so wie das Jesulein in einer Krippe aus Stroh gelegt worden ist, so liegt er und wirkt er in mir und durch mich, und ich muss lernen dorthin zu finden und zu hören in die Stille seiner allumfassenden Gegenwart, die selber nichts anderes ist als eben er selbst. Und das ist wohl der schwerste Weg, der hinunter in meine Tiefe führt (seltsam, dass ich dabei nicht nach oben denke, zum Himmel, sondern nach unten, auf den Grund), hinein in meine Mitte (medi-tierend), wo man nicht mehr redet, streitet, rechtet und argumentiert, wo man schaut und zulässt, wartet und hofft.

Mein Kronzeuge ist Jesus selber. Im 14. Kapitel des Johannes-Evangelium ("Abschiedsreden"; merkwürdig) wird er von seinem Freund Philippus gefragt: Herr, zeige uns den Vater, und es ist uns genug. Welch rührende Bescheidenheit eines Suchenden, der wartet und noch nicht sieht! Denselben Wunsch habe auch ich, seit meiner Schulzeit. Und Jesus wird unwirsch: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus. Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater!

Jesus ist fassungslos, weil er merkt, dass sein Freund Philippus auf der Leitung steht. Du hast mich nicht erkannt heißt nicht, du hast nicht gesehen, dass ich Gott bin. Es heißt, du hast nicht begriffen, dass der Vater in mir ist, so wie er auch in dir und in uns allen ist. Und dann fährt er fort: Glaubst du nicht, dass ich in Eins mit dem Vater bin, und der Vater in Eins ist mit mir? Die Worte, die ich zu euch sage, sage ich nicht aus mir. Der Vater aber, der bleibend in mir ist, tut seine Werke. [Übersetzungen von Fridolin Stier, Tübingen].

Wenn Jesus damit auf eine Exklusivbeziehung zwischen Gott und ihm selbst hätte verweisen wollen, müsste man sich fragen, warum seine Jüngerinnen und Jünger dann bei ihm geblieben sind. Das wäre ein schöner Freund, der alleine isst, der nicht teilt, der privilegiert ist und sich ein paar Anhänger als Beifallklatscher und Zujubler hält. Ein Jesus, der zwar Wein und nicht Wasser predigt aber den Wein alleine trinkt, der ist nicht der, der uns in vier Evangelien facettenreich geschildert wird. Dann wäre Jesus ein Verführer gewesen, die Beziehung zu ihm eine Einbahnstraße. Am Ende des Gesprächs mit Philippus fügt er an: Wenn nicht [wenn ihr also das nicht fassen könnt], so glaubt um eben der Werke willen.

Beim Exegeten Frank Schleritt (Göttingen) lese ich zu diesem Schriftvers (Joh, Kap.14,7): Wenn Gott nämlich in Jesus erkannt und gesehen werden kann, dann ist derjenige, der Jesus sieht, bereits im Stand des endgültigen und vollständigen Heils. Ich ergänze: Diese Sehen kann nur mich als Projektionsfläche haben, dass ich also in Jesus sehe wie es auch in mir ist, denn wenn man es nicht hat, kann man es auch nicht erjagen. Meinte J.W.v. Goethe.

Ich gehe davon aus, dass den Szenen des Johannesevangeliums wenig historischer Wert im Sinne eines Berichtes zukommt. Es handelt sich jedoch um eine Art Zusammenschau, um einen Extrakt aus den Erfahrungen mit ihm, bereits durch jahrzehntelange Predigt geprägt, eine Deutung des Redens und Wirkens Jesu, eingebettet in ein Drehbuch mit anspielungsreichen Szenen, die wiederum der Deutung bedürfen.

Wenn ich diese strenge Zurechtweisung des Philippus lediglich verstehe als Beleg für die personale Übereinstimmung zwischen Gottvater und Gottsohn, dann wäre ich draußen. Ein Zuschauer, den das nicht berühren kann, weil er auf Distanz gehalten wird und durch fromme Übungen vielleicht, vielleicht einmal am Glanz des Ewigen teilhaben darf. So wie Philippus. Der ist auch immer noch draußen. Weil er zu den Schlichten gehört, so wie wir alle, wenn wir ehrlich sind. Jesus aber will ihn hineinnehmen in diese fundamentale Einsicht: Schau her, Freund, der Vater ist in mir. Man könnte anfügen: Und so ist er auch in dir, denn es ist wie beim Weinstock und seinen Reben, die hängen zusammen und der Saft fließt durch Reben und Stock. Das steht ja auch in diesen Schriften.

Wäre Jesus ein anderer als ich oder Philippus, also der vom Vater einzig erwählte, geliebte Sohn, dann hätte er nicht alle Menschen in die Anrufung Gottes als Vater, als Papa geholt. Offensichtlich will er Philippus die Augen öffnen für etwas, was der doch schon längst hätte raffen müssen (meint Jesus), weil er ja schon immer dabei ist: Gott, der Vater, ist in uns, wir leben aus ihm, weil er in uns ist. Die Psychoanalyse von C. G. Jung hat gezeigt, dass die großen Figuren (Archetypen) in jedem von uns schon eingelegt sind wie ein Erbe der geistigen Evolution, kollektiv: Der Vater, die Mutter, der Prinz, die Königin, das Ungeheuer, die Hexe, der Kobold, die Fee. Spielarten der Ich-Rolle. Auf dem Urgrund aber west Gott und hält alles in Gang.

Und nun schießt sich für mich der Kreis. Weihnachten ist das Fest, in dem wir die göttliche Anwesenheit in uns immer wieder neu verstehen und erleben wollen. Wir sehen das als Ankunft. Und dabei ist er doch schon immer da. Ich bin der Ich-bin-da, lässt er Moses begreifen. Und weil dafür Worte nicht hinreichen, greifen wir zu Bildern: Er kommt in uns zur Welt, wird in uns Mensch, also so, wie wir als Wohnung des Herrn gemeint sind, nach seinem Bilde. Und davon gibt es viele Abbilder. Mittlerweile fünf Milliarden. Alle anders, aber alle eine Wohnstatt Gottes, der in seiner Welt ist, immer wieder in ihr ankommt und sie immer wieder neu erschafft, unablässig, seit Anbeginn.

Und mit diesen Gedanken, die ich recht betrachtet immer noch nicht ganz ausgelotet habe und das vermutlich auch nicht mehr schaffen werde vor meinem Tod, mit diesen Gedanken kann ich ganz zart singen: Es ist ein Ros entsprungen. Und Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein, denn Bethlehem ist mein Leib.

Sprachlich: Das hebräische Bet heißt Haus und lehem oder lahm heißt Fleisch, Brot, Fisch, je nach orientalischer Sprache, also Grundnahrungsmittel, wie in wikipedia übersetzt wird. So kann man also wunderbar mit der Sprache spielen und immer nur finden: In Bethlehem wird mir Nahrung gegeben, in mir geschieht das, was Gott zeugt und erzeugt!

Bethlehem ist meine Tiefe, meine Gebärmutter, die männlich und weiblich zugleich in mir liegt wie ein Schatzkästchen, das auf den Samen wartet. Will sagen: Es ist eine Knospe aufgegangen an einem Wurzelstöckchen, sehr zart und lieb, und immer Ich und Du und Wir, und es heißt Anima und Animus, es heißt Seele oder Kind, es heißt Kind Gottes oder Bettchen Gottes, in das er sich bei dir und bei mir legt. Und wir wollen es ahnen und still werden und so lange gemeinsam nach innen schauen, bis uns dieses Geheimnis durchflutet in uferloser Fülle.

Nochmals Horst Krause zum Schluss: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Die Bilder der Weihnacht, vom Engel, der Maria ankündigt, dass Gott sich in ihr einnisten will, bis zum Engel auf dem Felde, der unsere Furcht lösen will, die Furcht wohl vor uns selber, vor der Leere in uns, weswegen die Engel singen: Euch ist ein Kindlein geboren! Das heißt in euch, ihr habt es bekommen! Wo denn sonst, wenn nicht in euch selber, und ihr werdet es finden, nackt und bloß, ganz klein wie ein Glimmen, das man anfachen muss, Bilder vom Krippelein und von fürstlichen Geschenken, die dem zuteil werden, der sich einlässt. Und alle diese Bilder weisen den Weg nach innen: Er ist da, kein Er und keine Sie alleine, ein Es, das zum Du wird, in das ich verschmelzen kann. Es ist angekommen, entdecke ihn, betrachte sie, anschaue das Große im Kleinen!


4 Kommentare:

  1. Lieber Reinmar: Danke. Genau so hab ichs auch gefühlt. Tief in mir drin. Und Du hast dem Worte gegeben. Danke.

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  2. Reinmar, Du hast mich damit zu Tränen gerührt. Es ist das, was in mir seit Jahren als Denkmodell existiert: Gott ist in jedem von uns. Es gibt keinen allmächtigen wallebärtigen Gesellen, wir sind die Wohnung von Gott, wenn wir das zulassen können. Du aber bist einzigartig und wunderbar. Danke!

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  3. Gute Gedanken! Ich wünsch mir nur, alle könnten sie begreifen! Danke, daß Du das in Worte fassen konntest, was ich schon immer wußte...

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  4. Ich möchte mich bedanken für deinen Text, zu dem ich wirklich sagen kann: ja! So erlebe ich es auch. Ich habe kürzlich gelesen: Gott braucht uns, um sich in uns zu erkennen...Das passt sehr gut zu dem, was ich aus deinen Gedanken aufgenommen habe.
    Wo soll Gott denn sein, wenn nicht in uns.
    Anita

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