Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)

Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)
Meine verehrungswürdige Oma. Sie hat mir gegeben was mich umtreibt im Haus.

Samstag, 24. Dezember 2011

Das fühlt man, tief drinnen!

Horst Krause heißt Horst Krause im Film wie im richtigen Leben. Der brandenburgische Schauspieler ist durch sein Rolle des gleichnamigen Polizeiwachtmeisters Krause berühmt geworden. Im zweiten seiner Familienfilme [Krauses Braut, 2011] kommt es zum Streit mit seiner Schwester Meta. Die will Krauses Kurbekanntschaft Rudi heiraten [Krauses Kur, 2009] und spricht von Bestimmung. Da hebt Krause erregt seine Stimme und doziert: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Er lässt keine Sekunde Zeit zum Überlegen,  stößt mit zwei Fingern immer wieder gegen seine Brust und gibt selbst die Antwort: Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Horst Krause als Horst Krause mit seinen ledigen Filmschwestern.
Von links: Meta, Horst, Elsa (Google-Bild).

Vor wenigen Tagen habe ich das im Fernsehen erlebt. Nicht gesehen. Erlebt. Es hat mich geradezu aufgeweckt. Da weist mir das Drehbuch einer Familienkomödie einen möglichen Weg durch meinen Gedankendschungel. Gibt mir keine Antwort, sondern zeigt mir eine Tür, hinter der sie sein könnte, die Antwort, die Lösung. Besser als Lösung wäre: die Einsicht, die Erkenntnis oder die Ruhe für meine Gedanken.

Im Advent macht man Türchen auf. Man lässt sich jeden Tag überraschen, obwohl man weiß, was heraus kommt, wie die Kinder sagen. Nach dem Krieg waren es transparente Bildchen, die vor einer Kerze zu leuchten begannen. Am 24. Dezember das große Türchen mit dem Jesuskind in der Krippe. Heute sind es Schokokügelchen von Lindt. Hat mir meine groß gewordene Anna geschenkt. Oder Zettelchen mit klugen und milden Sprüchen. Und in der Stadt machen sie sogar lebendige Adventskalender.

Schon als Kind wollte ich den Adventskalender nicht missen. Aber seine fehlende Tiefe hat mich enttäuscht. Denn hinter den Türchen war nichts, räumlich gesehen. Nur Zellophanpapier.  So wie auf den Vorlagebildern meines Steinbaukastens: Die Mauern standen ohne Raumtiefe auf dem Papier. Zweidimensionale Fassaden in Blau, Rot und Gelb.

Wie oft habe ich seither die Weihnachtsgeschichte gehört, sie erzählt, musiziert oder gespielt? Gerade vierzig Mal, oder fünfzig. Nicht viel. Aber es hat sich von Mal zu Mal etwas verschoben, geändert, umgestülpt. Das mag ich eigentlich nicht. Ich hätte es gerne stabil, geborgen und sicher. So wie ein Heiligabend. Ein Idyll ohne Zeitlimit, mit Kerzenschein und wohlwollenden Gesichtern. Heute fürchte ich das Idyll. Es ist künstlich und ich weiß nie, wann die Spannungen zwischen den Angehörigen wie Beulen aufbrechen  - dieses ekelhafte Wort, so bescheuert wie Familienmitglieder.

In den Weihnachtsliedern habe ich mir das Idyll bewahrt. Eine ganze Reihe davon darf ich morgen Abend in der Christmette spielen, als Organist meiner Gemeinde. Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein macht mich glücklich beim Spielen (die Kurzwendung zur Dominante bereits in der ersten Zeile, von F-Dur nach C, erlebe ich wie eine Metamorphose, Strophe für Strophe), Es ist ein Ros entsprungen versunken und selig (Die Tonwiederholung zu Beginn sind dem Nun danket alle Gott frappierend ähnlich: Zum selben Ton verschiebt sich die Harmonik tektonisch). Zum Schluss kommen Oh, du fröhliche und schließlich Stille Nacht. Diese beiden Lieder stehen nicht im katholischen Gesangbuch, Stille Nacht wenigstens als Gedicht. So, als ob das, was die Menschen bewegt, das theologische Examen nicht bestanden hätte. Ich spiele beide Lieder für die Menschen, die an Heiligabend auf der Empore bis zu meinem Spieltisch stehen. Und sie brauchen kein Gesangbuch, keine Vorlage um selig zu sein, in diesem  Moment. Manche strahlen, einigen versagt die Stimme und einige heulen. Und ich bade sie in einem Strom von Wohlklang, den ich noch vor 40 Jahren zum Kotzen fand. Weil ich die Fassade nicht mochte. Ich wollte Substanz. Wahres statt Gesetze.

Psychologen sagen, Weihnachten sei das Fest der Familienkonflikte. In der Tat, schon als Bub habe ich das Missverhältnis zwischen Alltag und Heiligabend gespürt, habe gezweifelt an diesen Ebenen brüchiger Echtheit, die von den Eltern ausgebreitet worden sind. Heute so, morgen so, und gestern war wieder alles ganz anders. Ich habe aber auch gemerkt, dass ein unsägliches Sehnen und Hoffen aus allen Herzen und Gesichtern gesprudelt ist. Harmoniebedürfnis, ja, Harmoniesucht nennt man das heute, als ob dadurch mehr getan wäre als eben ein Etikett beschrieben. Und ich wusste nicht warum das so ist. Als Student haben wir Weihnachten den Kragen rum gedreht, sind rechtzeitig auf eine Hütte verschwunden, haben vier Tage lang gesoffen und Skat gespielt und danach siegessicher festgestellt: War was? Es war nichts. Alles bleibt beim Alten. Verlogenes Establishment.

Ich glaube nicht, dass die Leute deswegen heulen. Sie heulen, und ich heule, weil eine Fassade weggezogen wird wie ein Vorhang. Aber was tut sich dahinter auf?

Die Wirren der Familie, die Abweichungen von der Norm sind ein gewaltiger Plot, wie die Drehbuchschreiber sagen. Bernd Böhlich spielt als Drehbuchautor und Regisseur der Krause-Filme damit virtuos. Und Peter von Matt, der Schweizer Literaturwissenschaftler, sagt, Literatur habe nur ein einziges Thema. Prosa und Lyrik, Bühne und Film kennen nur dieses eine zentrale Thema, sagt er beschwörend: Den Familienkonflikt, die Spannungen und Dreiecksgeschichten, die Erziehungsproblem, die Eifersucht, den Hass der von der Liebe übrig geblieben ist, Verzweiflung, Rache, Versöhnung und Vernichtung.

Da hat Lukas einen Gegenentwurf verfasst, der die westliche Welt anrührt bis heute. Die Heilige Familie mit Vater, Mutter, Kind, mit Nachbarn, Stallvieh und großen Tieren, hohem Besuch aus Arabien und Afrika. Keine Probleme, nur heile Welt? Freilich, es gibt Probleme, die liegen aber da draußen, in den Bedingungen, im Bühnenbild, nicht in den Herzen: Keine Herberge, kein Bett, Stallwärme nur von schnaufenden Tieren.

So habe ich Weihnachten kennen gelernt, kurz nach 1945, als es buchstäblich nichts zu fressen gab und die Eltern und Großeltern die Seligkeit aus Nichts inszenierten. Innen drin jedoch stimmt alles: Vater, Mutter, Kind, Nachbarn. Harmonie satt. Und Glück und Zufriedenheit. [Ich muss nachtragen: Dass Oma und Opa, Mutter und Vater damals am Boden schleiften, weil ihre Zukunft verbrannt, die Kassen leer und das einzige Kapital die Hoffnung auf Besserung war, das habe ich nicht merken können. Die Großen haben es nur durch Tränen mitgeteilt, und ich dachte, sie weinten vor Glück. Bald habe ich gemerkt, dass die Oma tief verletzt war, durch den Krieg und den Verlust ihres Sohnes, gerade mal vier Jahre her. Meine Oma sieht man in diesem Blog ganz oben: Mein Engel auf Erden und hoffentlich auch im Himmel. Als sie im Sarg lag, habe ich die katholische Tante Anna gefragt, ob die Oma jetzt im Himmel sei. Da hat die Papistin mit wichtiger Miene gesagt, das wisse sie nicht. Oma war nämlich evangelisch getauft und von Beruf die Liebe. Ab da wusste ich, dass etwas nicht stimmen kann. Ich war 18. ]

Und so viel Wonne ist im Stall von Bethlehem, dass die Engelein auf dem Stallgiebel jubilieren und jauchzen. Das ist zwar nicht von Lukas, aber das ist draus geworden. So wie das große Fressen, und wenn mir der Gabenteppich unterm Christbaum wie ausgekotzte Überflüssigkeiten erscheint, und nach 17 Päckchen die Tochter meint: Papa, etwas wenig! dann sitze ich in der Krise. Das Mädele hielt Weihnachten für einen ewigen Fluss von Überraschungen. Und damit liegt sie sogar goldrichtig. Die Überraschungen liegen aber nicht vor uns sondern in uns.

Mir gefällt Weihnachten sehr, aber es hält nicht an. Es besitzt keine Nachhaltigkeit, wie man heute sagt. Für mich ist es nicht nachhaltig. Weil mir diese trauten Bilder eine Antwort auf meine zentrale Frage zu verbauen scheinen. Die will ich gleich und unverblümt nennen. Sie ist ebenso unersättlich wie die Augen des Kindes, nachdem alle Päckchen ausgepackt sind, die offensichtlich noch nicht das Kind gesättigt haben, weil es nicht das bekommen hat, was sein Sehnen stillen könnte. Und so entscheidet sich Weihnachten tatsächlich unterm Tannenbaum. Es wird ent-schieden: Weg mit dem Tand, der an die Stelle des Eigentlichen gerückt ist - aber wo liegt es, das Eigentliche?

Meine Frage lautet:
Was ist das für ein Gott, der irgendwo sitzt und von irgendwoher einen Sohn auf die Erde schickt, ihn vor Ort einer 14-Jährigen namens Maria in den Schoß legt, um diesen nach 33 Jahren für meine Sünden schlachten zu lassen? Woran kann ich glauben, ohne in einem Netz von Theologismen kleben zu bleiben, in dem man sich ebenso verfangen kann wie im Netz aus Konsum und Gier?

Ich drehe und wende es wie ich will und finde nur diese Antwort: Ein solcher Gott ist ein von Menschen gemachter Außengott. Ein antiker Olympier, der irdische Mägdelein erwählt, die ihm ein Kind schenken. Halbgötter nannte man damals diese Kinder, und es gab viele davon. Konstrukte des bewundernden Hinaufschauens. Jesus, so sagen die Evangelisten indirekt, war der erste konkrete Halbgott, einer zum Anfassen, einer der tatsächlich und überzeugend das Reich Gottes auf Erden erwartete. Überzeugend für die die Denkwelt der Antike, meine ich, aber nicht ausreichend für meine Welt. Weil ich sonst 2000 Jahre Entwicklung negieren müsste. Für mich sind "Sterne nicht mehr Löcher im Himmel" - wo habe ich das gelesen? Und wenn was dran ist am Evangelium, dann kann es nicht durch kanonisierte (unverrückbar festgeschriebene) antike Denkmodelle überzeugen. Aber genau das verlangt meine Kirche, und ihre Protagonsiten hüllen sich dazu in die Gewänder der drei Weisen aus dem Morgenlande, in roten Schuhen und unter Goldkronen.

Kann man Mythen lebendig werden, materialisieren, geradezu gerinnen lassen? Zweifeln nicht schon Kinder am Nikolaus in concreto, obwohl sie seine Geschichte gerne hören und er im Reich ihrer Vorstellung ein beachtliche Rolle spielen kann. Kein Wunder, dass sich alle Welt diesen Gott als Person vorstellt, mit mächtiger, großer, unnahbarer Gestalt. Ein Abbild des eigenen Vaters, in dem die Mutter nicht mehr vorkommt, ein Gesetzeschreiber und Richter, ein Weltenherrscher, der alle zermalmt und dennoch als Inbegriff der Liebe gelten soll? Eine von mir getrennte Person, und doch ein Du, wie es die Pfarrer predigen, ein personaler Gott, der mir nachläuft, aus Liebe, und vor dem ich doch nur Angst habe? Der so weit weg ist, dass ich als ungenügendes Gegenüber auf sein Wohlwollen angewiesen bin, das ich mir aber erst verdienen muss. Und wenn ich das schon nicht kann, dann wenigstens über den Opfertod dessen geschenkt bekomme, der einmal ein Jesulein war, jetzt aber zum Lamm Gottes ausgewachsen ist, das geschlachtet wird, für mich, was mir großmütig gewährt wird, aus Gnade (Wofür, denn wem habe ich etwas angetan, außer dass der mich ins Leben gerufen haben soll, der mich bereits auf die Knie zwingt, wenn die Nabelschnur noch nicht durchschnitten ist?), ich, eine von der Erbsünde belastete Null, schon böse und korrekturbedürftig bei Geburt (welch menschenverachtendes, widerliches Konstrukt!) - eine Fehlgeburt, wie Paulus sich selber nannte, dieser eifernde, pharisäische Skrupulant und Konstrukteur eines theologischen Erlösungsgebäudes, der das Reich Gottes ins Kommende verlegt, weil es hienieden ausgeblieben ist. Bin ich das: Ein Gefallener, bevor ich auch noch auf den Beinen war? Und schon als Bub habe ich bei der Kreuzwegandacht geweint, weil ich mich so schämte, dass der arme Herr Jesus nun für mich und meine Sünden gekreuzigt wird.

Ich sage es frei: Mit diesen Vorstellungen breche ich nun. Ich ecke damit an, nicht nur bei den theologischen Lehrern und ihren Lehren (die sind interessant aber mir relativ wurscht, solange sie nicht aus dem Hamsterrad hinaus führen), ich ecke an, zwischen dogmatischen Wänden eingesperrt in eine Betonzelle, in der ich mich wund toben kann oder resignieren, aus der ich aber nicht entkomme zur Freiheit des Lichts, des Geistes, der Wahrheit! Und jetzt ist wieder Polizeiwachtmeister Krause dran: Das ist tief drinnen, da drin!

Und plötzlich rücken die antiken Bilder der Religiosität vor 2000 Jahren auf den Platz, wo sie hingehören, achtbar, aber eben nur grandiose Stationen einer fortwährenden Metamorphose, die nicht diesen Bildern widerfährt, die aus diesen Bildern sich verändert und umformt, bis zu mir (und was sie werden, wenn ich nicht mehr hier bin, kann ich allenfalls ahnen): Auf ihre historischen Podeste gehören die Bilder, als Zeugnis vergangener Denkweisen und Vorstellungswelten.

Und ich komme auf den Punkt. Gott ist nicht irgendwo, wo er alles hört, weiß und notiert. Er ist in mir. Sonst hätte das Wort vom Fleisch-Werden des Logos keinen Sinn. Diesen Sinn muss ich in mir finden, Woanders erreicht er mich nicht. Das Brot des Lebens macht mich nicht satt in der Hand des Priesters. Erst wenn es in mir ist kann es sättigen. Nur in mir kann ich Gott finden. Er ist nicht vor 2000 Jahren in die Welt gekommen. Er kommt ständig in die Welt. Er ist die Welt. Er wird Mensch in mir und ist Ich (nicht ich bin Gott, sondern er ist bereits, was ich werden kann, wenn ich ihn zulasse, in mir lasse, ihn dort suche.) Er west in mir und in allen Dingen. Und so wie das Jesulein in einer Krippe aus Stroh gelegt worden ist, so liegt er und wirkt er in mir und durch mich, und ich muss lernen dorthin zu finden und zu hören in die Stille seiner allumfassenden Gegenwart, die selber nichts anderes ist als eben er selbst. Und das ist wohl der schwerste Weg, der hinunter in meine Tiefe führt (seltsam, dass ich dabei nicht nach oben denke, zum Himmel, sondern nach unten, auf den Grund), hinein in meine Mitte (medi-tierend), wo man nicht mehr redet, streitet, rechtet und argumentiert, wo man schaut und zulässt, wartet und hofft.

Mein Kronzeuge ist Jesus selber. Im 14. Kapitel des Johannes-Evangelium ("Abschiedsreden"; merkwürdig) wird er von seinem Freund Philippus gefragt: Herr, zeige uns den Vater, und es ist uns genug. Welch rührende Bescheidenheit eines Suchenden, der wartet und noch nicht sieht! Denselben Wunsch habe auch ich, seit meiner Schulzeit. Und Jesus wird unwirsch: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus. Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater!

Jesus ist fassungslos, weil er merkt, dass sein Freund Philippus auf der Leitung steht. Du hast mich nicht erkannt heißt nicht, du hast nicht gesehen, dass ich Gott bin. Es heißt, du hast nicht begriffen, dass der Vater in mir ist, so wie er auch in dir und in uns allen ist. Und dann fährt er fort: Glaubst du nicht, dass ich in Eins mit dem Vater bin, und der Vater in Eins ist mit mir? Die Worte, die ich zu euch sage, sage ich nicht aus mir. Der Vater aber, der bleibend in mir ist, tut seine Werke. [Übersetzungen von Fridolin Stier, Tübingen].

Wenn Jesus damit auf eine Exklusivbeziehung zwischen Gott und ihm selbst hätte verweisen wollen, müsste man sich fragen, warum seine Jüngerinnen und Jünger dann bei ihm geblieben sind. Das wäre ein schöner Freund, der alleine isst, der nicht teilt, der privilegiert ist und sich ein paar Anhänger als Beifallklatscher und Zujubler hält. Ein Jesus, der zwar Wein und nicht Wasser predigt aber den Wein alleine trinkt, der ist nicht der, der uns in vier Evangelien facettenreich geschildert wird. Dann wäre Jesus ein Verführer gewesen, die Beziehung zu ihm eine Einbahnstraße. Am Ende des Gesprächs mit Philippus fügt er an: Wenn nicht [wenn ihr also das nicht fassen könnt], so glaubt um eben der Werke willen.

Beim Exegeten Frank Schleritt (Göttingen) lese ich zu diesem Schriftvers (Joh, Kap.14,7): Wenn Gott nämlich in Jesus erkannt und gesehen werden kann, dann ist derjenige, der Jesus sieht, bereits im Stand des endgültigen und vollständigen Heils. Ich ergänze: Diese Sehen kann nur mich als Projektionsfläche haben, dass ich also in Jesus sehe wie es auch in mir ist, denn wenn man es nicht hat, kann man es auch nicht erjagen. Meinte J.W.v. Goethe.

Ich gehe davon aus, dass den Szenen des Johannesevangeliums wenig historischer Wert im Sinne eines Berichtes zukommt. Es handelt sich jedoch um eine Art Zusammenschau, um einen Extrakt aus den Erfahrungen mit ihm, bereits durch jahrzehntelange Predigt geprägt, eine Deutung des Redens und Wirkens Jesu, eingebettet in ein Drehbuch mit anspielungsreichen Szenen, die wiederum der Deutung bedürfen.

Wenn ich diese strenge Zurechtweisung des Philippus lediglich verstehe als Beleg für die personale Übereinstimmung zwischen Gottvater und Gottsohn, dann wäre ich draußen. Ein Zuschauer, den das nicht berühren kann, weil er auf Distanz gehalten wird und durch fromme Übungen vielleicht, vielleicht einmal am Glanz des Ewigen teilhaben darf. So wie Philippus. Der ist auch immer noch draußen. Weil er zu den Schlichten gehört, so wie wir alle, wenn wir ehrlich sind. Jesus aber will ihn hineinnehmen in diese fundamentale Einsicht: Schau her, Freund, der Vater ist in mir. Man könnte anfügen: Und so ist er auch in dir, denn es ist wie beim Weinstock und seinen Reben, die hängen zusammen und der Saft fließt durch Reben und Stock. Das steht ja auch in diesen Schriften.

Wäre Jesus ein anderer als ich oder Philippus, also der vom Vater einzig erwählte, geliebte Sohn, dann hätte er nicht alle Menschen in die Anrufung Gottes als Vater, als Papa geholt. Offensichtlich will er Philippus die Augen öffnen für etwas, was der doch schon längst hätte raffen müssen (meint Jesus), weil er ja schon immer dabei ist: Gott, der Vater, ist in uns, wir leben aus ihm, weil er in uns ist. Die Psychoanalyse von C. G. Jung hat gezeigt, dass die großen Figuren (Archetypen) in jedem von uns schon eingelegt sind wie ein Erbe der geistigen Evolution, kollektiv: Der Vater, die Mutter, der Prinz, die Königin, das Ungeheuer, die Hexe, der Kobold, die Fee. Spielarten der Ich-Rolle. Auf dem Urgrund aber west Gott und hält alles in Gang.

Und nun schießt sich für mich der Kreis. Weihnachten ist das Fest, in dem wir die göttliche Anwesenheit in uns immer wieder neu verstehen und erleben wollen. Wir sehen das als Ankunft. Und dabei ist er doch schon immer da. Ich bin der Ich-bin-da, lässt er Moses begreifen. Und weil dafür Worte nicht hinreichen, greifen wir zu Bildern: Er kommt in uns zur Welt, wird in uns Mensch, also so, wie wir als Wohnung des Herrn gemeint sind, nach seinem Bilde. Und davon gibt es viele Abbilder. Mittlerweile fünf Milliarden. Alle anders, aber alle eine Wohnstatt Gottes, der in seiner Welt ist, immer wieder in ihr ankommt und sie immer wieder neu erschafft, unablässig, seit Anbeginn.

Und mit diesen Gedanken, die ich recht betrachtet immer noch nicht ganz ausgelotet habe und das vermutlich auch nicht mehr schaffen werde vor meinem Tod, mit diesen Gedanken kann ich ganz zart singen: Es ist ein Ros entsprungen. Und Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein, denn Bethlehem ist mein Leib.

Sprachlich: Das hebräische Bet heißt Haus und lehem oder lahm heißt Fleisch, Brot, Fisch, je nach orientalischer Sprache, also Grundnahrungsmittel, wie in wikipedia übersetzt wird. So kann man also wunderbar mit der Sprache spielen und immer nur finden: In Bethlehem wird mir Nahrung gegeben, in mir geschieht das, was Gott zeugt und erzeugt!

Bethlehem ist meine Tiefe, meine Gebärmutter, die männlich und weiblich zugleich in mir liegt wie ein Schatzkästchen, das auf den Samen wartet. Will sagen: Es ist eine Knospe aufgegangen an einem Wurzelstöckchen, sehr zart und lieb, und immer Ich und Du und Wir, und es heißt Anima und Animus, es heißt Seele oder Kind, es heißt Kind Gottes oder Bettchen Gottes, in das er sich bei dir und bei mir legt. Und wir wollen es ahnen und still werden und so lange gemeinsam nach innen schauen, bis uns dieses Geheimnis durchflutet in uferloser Fülle.

Nochmals Horst Krause zum Schluss: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Die Bilder der Weihnacht, vom Engel, der Maria ankündigt, dass Gott sich in ihr einnisten will, bis zum Engel auf dem Felde, der unsere Furcht lösen will, die Furcht wohl vor uns selber, vor der Leere in uns, weswegen die Engel singen: Euch ist ein Kindlein geboren! Das heißt in euch, ihr habt es bekommen! Wo denn sonst, wenn nicht in euch selber, und ihr werdet es finden, nackt und bloß, ganz klein wie ein Glimmen, das man anfachen muss, Bilder vom Krippelein und von fürstlichen Geschenken, die dem zuteil werden, der sich einlässt. Und alle diese Bilder weisen den Weg nach innen: Er ist da, kein Er und keine Sie alleine, ein Es, das zum Du wird, in das ich verschmelzen kann. Es ist angekommen, entdecke ihn, betrachte sie, anschaue das Große im Kleinen!


Sonntag, 11. Dezember 2011

Gaudete!

Stückchen des 27 km langen Teilchenbeschleunigers in Genf.

Ich ahnte es schon lange: Gott ist ein Bastler, eine Köchin, ein Tüftler, eine Schneiderin und Zwitterin mit Januskopf. In Genf werden übermorgen die Physiker der Welt zusammen kommen, wie die Hl. Drei Könige nach der Geburt des Herrn in Bethlehem. Denen hat ein außergewöhnlicher Stern am Himmel den Weg zu etwas Außergewöhnlichem gezeigt, das im Gewöhnlichen zutage getreten ist.

Schemazeichnung des
Ringbeschleunigers CERN in Genf
Im Teilchenbeschleuniger CERN in Genf treten immer wieder in energiereichen Kollisionen Teilchen auf, die auf etwas hindeuten. Zurzeit weisen sie darauf hin, dass es ein Teilchen geben müsste (Wahrscheinlichkeit bereits bei 99 Prozent; Naturgesetze sind immer eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit einer unter anderen Möglichkeiten mit extrem niederer Wahrscheinlichkeit), das Higgs-Teilchen, das der reinen Energie Masse, also Materie gibt. (Den Zusammenhang zwischen Energie und Masse beschreibt bereits die fast 100 Jahre alte Äquivalenz Einsteins: Energie ist das Produkt aus Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit.) Das ist, physikalisch gesprochen, nichts anderes als: Energie manifestiert sich in der Welt, wird geboren, wird Welt, so wie wir die Welt begreifen, nämlich als Fassliches, Greifbares, Wägbares, an die der Fuß stoßen kann, die weh tut oder leuchtet, lockt und staunen lässt, sie kommt in die Welt als Teilchen, steigt herab, und damit heraus aus der Sphäre des reinen Lichtes der Anschauung, dessen die Engel schon teilhaftig sind wie Sofakissen, die sich dem Profil des Ruhenden anschmiegen und dessen wir teilhaftig werden wollen. So wenigstens hoffen wir, weil eine Ahnung davon als Proviant auf den Weg gegeben worden ist.

Simulation einer Teilchenkollission,
in der Higgs-Teilchen isoliert werden.
Das Higgs-Teilchen (Higgs-Boson), benannt nach dem brit. Physiker Peter Higgs, wird schon seit 30 Jahren vermutet. Es ist die pure Masse, etwa 120 mal schwerer als ein Proton oder Neutron, aus denen die Atomkerne bestehen, hat aber selber kein Energiepotential wie etwa das Elektron. Bildlich: Das Higgs-Teilchen ist wie ein "Gerücht, das in einer diffusen Menschenmenge die Einzelnen zu Gruppen formt". Dieses schöne Gleichnis ist zitiert in einem aktuellen Bericht der Süddeutschen Zeitung. Mit diesem Bild versuchen Physiker, eine Vorstellung davon zu geben, was im Mikrobereich der Welt passiert, was sie bildet und greifbar macht, was ihr Gewicht gibt. Sehr spannend: Sie sagen "ein Gerücht". Ein Wort also als Kristalliusationspunkt, an dem sich die Teilchen andocken, zu Krümeln, zu Haufen. Kommet zuhauf! Ein Wort, das Fleisch wird: Weihnachten!
Michelangelo: Die Erschaffung Adams. Die Berührung der Fingerspitzen gleichen der Kollission im obigen Bild. Wunderschön und selten beachtet: Die vielen Engel, die, als wären sie Teile von ihm, den Erschaffer umhüllen wie ein Rudel Welpen.

Liebe ist dann wohl die Bündelung von Myriaden dieser Ausformungen, eine Häufung von Wahrscheinlichkeiten, ein Trend. So wie die Position einer Tischplatte das Tischtennisbällchen in die eine oder in die andere Richtung rollen lässt. Wobei die Abweichungen von Null Grad Neigung nur verschwindend gering sein brauchen, um das Bällchen in die eine oder in die andere Richtung in Gang zu setzen. In alle Windrichtungen.
Botticelli, der in der Malerei dem Weiblichen seine Gesichter gab: Ankündung des Erzengels Gabriel an Maria, dass in ihr das Wort Gestalt annehmen und wachsen werde.
Gaudete!

Dies ist das erste Wort des lat. Eingangsgebetes der Messe am 3. Adventssonntag, wonach dieser Tag seinen liturgischen Namen hat - merkwürdigerweise auch von den Latein-fernen Lutheranern und Protestanten gebraucht: Gaudete in Dominum semper - Freuet euch immerfort im Herrn.

Darauf einen adventlichen Glühwein! Und nach dem zweiten und dritten prosten wir auch dem Lieben Gott zu, freuen uns mit ihm und in ihm und über seine Schöpfung, in der wir ein reales Teilchen sind, gewollt, aufgeglüht und verglühend, zurückfallend in das Meer seiner Liebe (so wie die Engelchen bei Michelangelo, in die Gott sich kuschelt wie in Sofakissen). Und mit Jesus sind wir Weinsäufer, Lallen und sagen nicht Prost sondern  Higgs. Eine moderne Form des Halleluja, das auch nichts anderes als "Lallen in Begeisterung" bedeutet: Hillel Jachwäh = Preiset Gott, in seiner Urform ein  gestaltloses Lallen ohne Wortbedeutung, wie der Säugling, der seine Worte noch nicht hat, aber bereits mit Lippen und Zunge zu dem spricht, der ihn liebend betrachtet und im Arm hält. (http://de.wikipedia.org/wiki/Halleluja)

Mittwoch, 24. August 2011

Der kleine Butziwackel

Zwetschgenkuchen mit Streuseln
Unter der Überschrift Der Kleinste kriegt sie alle füllte am 24. August 2011 Viola Katemann das Sommerloch der Stuttgarter Zeitung mit vier Spalten über Pflaumen und Zwetschgen. Behilflich dabei war ihr die Obstanbäuerin Hilde Schön aus Stuttgart-Hedelfingen, die auf dem Markt verschiedene Zwetschgensorten aus eigenem Anbau feilhält. Am Ende gibt es sogar ein Standardrezept für Zwetschenkuchen - mit Hefeteig und Streuseln, also ein bayerischer Zwetschgendatschi, längst nicht so genussreich wie einer aus Mürbteig mit Mandelstiften statt der Streusel.

Die Streusel schreibt man nicht mit äu sondern mit eu, weil sie gestreut und nicht gesträut werden, aber das populärste aller  Fingerspiele, mit welchem Frau Katemann ihren Bericht über die Pflaumen und deren Stieftöchter, die Zwetschgen sinnigerweise eröffnet, schreibt man nicht mit Kleine sondern mit Butziwackel. Wenigstens nach meiner Les- und Hörart.

Fingerspiele-Sammlung
Das ist der Daumen.
Der schüttelt die Pflaumen.
Der liest sie auf.
Der trägt sie nach Haus.
Und der kleine Butziwackel -
Der isst sie alle, alle auf.

So habe ich es gelernt. Frau Katemann indes lässt enden: ...und der ganz Kleine, der isst sie alle, alle auf. Diese Version, die man auch im Internet serviert bekommt, ist in meinen Fingerspielbüchern nicht überliefert und in meiner Erinnerung gleich dreimal nicht. Sie nimmt dem Fingerspiel die abschließende Turbulenz, und die erzeugt man so:

Das Kindchen ist auf dem Schoß und fingert mit den Fingerchen. Der Opa tippt sie an, streichelt sie, biegt sie sanft, rollt sie zur Faust, kitzelt ein bisschen und unterhält damit sein Enkelkind. Schließlich kommt der Sprechvers, schön langsam, große Pause zwischen den Zeilen und nach dem Demonstrativpronomen der, das jede Zeile anführt. Der Opa greift jeden Finger, der vorgestellt wird, einzeln und zieht etwas daran (später reicht es, die Fingerkuppen anzutippen, wozu ihm das Kindlein das jeweilige Fingerchen entgegen streckt). Die längste Pause, mit erhöhter Stimme, gibt es nach dem Butziwackel - und bei der isst sie alle, alle auf schließt die große Opahand die kleinen Fingerchen und wurstelt sie sanft durcheinander, und darauf hat ja das Kindlein gewartet und jauchzt. Mit der ganz Kleine geht das nicht.

In diesem Spiel schlummert der Reiz von Geschichten, die man immer wieder hört. Sie laufen einem Höhepunkt zu, und nach einem kurzen Moment des Zögerns kommt die entspannende Lösung. Die darf nie anders ausfallen als erwartet. Man stelle sich nur mal vor, die Eva hätte zur Schlange gesagt: Nein, diesen Apfel esse ich nicht, du blöde Sau!

Nachtrag 1:

Als Kindlein war mir nicht klar, warum, man bei der zweiten Zeile zum nächsten Finger, dem Zeigefinger wechselt. Ich habe das erste der zu Beginn der zweiten Zeile als ein Relativpronomen gedeutet: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Und das war mir plausibel, weil der Daumen ja der Zupackfinger ist. Erst später hat sich der Schleier gelüftet, und schon war der Sprechvers entzaubert.

Nachtrag 2:

Originalcover von
Max Butziwackel,
der Ameisenkaiser
(Amazon)
Butziwackel ist die Bezeichnung für ein Kind, das gerade laufen lernt. Das Wort fand Eingang in die Übersetzung von Ciondolino, einem Kinderbuch von Luigi Bertelli. Im Deutschen lautet der Buchtitel Max Butziwackel, der Ameisenkaiser. Es gehörte zu meinen Lieblingsbüchern, nachdem ich lesen gelernt hatte. Ich habe es vermutlich bis zu zehn Mal gelesen, und dabei die Welt der Insekten kennengelernt. Es war so spannend wie ein Krimi. Der Bub Max ist zur Ameise verwandelt worden, weil er dachte, die gehen den ganzen Tag nur spazieren, und hat es bei diesen Tierchen bis zum Kaiser gebracht, dabei mehrere Schlachten geschlagen, verloren, und haarsträubende, lebensgefährliche Begegnungen mit Wespen, Ameisenlöwen und anderen Sechsbeinern durchgestanden. Von Max habe ich mehr Standing getrunken als von Eltern und Tanten


Dienstag, 5. Juli 2011

Tageskarte 5. Juli 2011

Wider Erwarten heute nur zu zweit am Tisch: Paule und ich, keine Hausi weil Mittagsschule. Also schnell umgeplant.

Heute gibt es:

Reste-Menü für Männer aus vielen kleinen Zutaten
schmeckt sehr lecker, wie im Urlaub

Reissuppe - aus einem Rest Risotto samt Liebstöckelbrühe (konz.), aus der Gefriere, je eigene Produktion.
Seelachsfilet - aus der gefriertruhe vom Supermarkt, Restportion, gedünstet.
Bratkartoffeln - Eigenproduktion.
Buttergemüse - kleine Tiefkühlportion.
Paprikasalat - rot, gewürfelt mit
Dressing - süßsauer, Marke Paul.
Zitronenkuchen - kleine Schnitte, vom Supermarkt, billiger Restposten, rechtzeitig gekriegt und eingefroren.

Rezept Dressing St. Paul:

Essig, Öl, Kaltwasser wie 3 :1 : 2,
1/2 Zwiebel, Mikrowürfelchen,
1/2 EL Ketchup,
1 TL Salatcreme,
2 EL Buttermilch,
Pries Salz, Prise Zucker,
Prise Salatkräuter oder einige frische Kräuter vom Topf (Thymian und seine Freunde).
Alles mischen und schütteln. Erst kurz vor dem Servieren über die Paprikawürfelchen.

Rezept Bratkartoffeln

Kartoffeln, klein bis mittelgroß, gleich groß, festkochende, zu Pellkartoffeln dämpfen (im Wasser mit 1 Prise Kümmel, oder Dampfgarer.
Pellen, antrocknen und kühlen lassen (auch vom Vortag, dann sogar noch besser, saugen nicht so leicht Fett). In nicht gar so dünne Scheiben schneiden und in
Butterschmalz oder Schweineschmalz sehr heiß kurzbraten. Nicht schichten, sondern eher Boden deckend frittieren, wenden, mit Sieb heraus heben, auf Papier abfetten.
Mit Salz und etwas Majoran würzen.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Seraphen mit sechs Flügeln

Sechsflügeliger Seraph.
Europäische Wandmalerei

Am kommenden Sonntag hat die ev. Kirche zum Trinitatis-Sonntag offenbar Jesaja, Kapitel 6 als Predigttext vorgegeben. Manche Predigerinnen und Prediger ratschlagen noch (in Facebook), wie sie damit umgehen sollen. Weiß ich auch nicht per Stein der Weisen, aber ein paar Einfälle sind mir dazu gekommen heute Nacht.
Ich plaudere hier alles aus, was mir dazu einfällt, ungeordnet, so wie´s in den Kopf kommt.

Der Text aus www.Bibel-online.net, mit Links (vulgo: Verweisen) auf assoziierte andere Bibelstellen:

Jesaja - Kapitel 6

Jesajas Berufung zum Propheten

Des Jahres, da der König Usia starb, sah ich den HERRN sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl, und sein Saum füllte den Tempel. (Johannes 12.41) Seraphim standen über ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll! (Offenbarung 4.8) (Habakuk 3.3) daß die Überschwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. (Hesekiel 10.4) (Offenbarung 15.8) 
   Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. (2. Mose 33.20) Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnt sei. (Sacharja 3.4) 
   Und ich hörte die Stimme des HERRN, daß er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich; sende mich! Und er sprach: Gehe hin und sprich zu diesem Volk: Höret, und verstehet's nicht; sehet, und merket's nicht! (Matthäus 13.11-15) (Johannes 12.40) (Apostelgeschichte 28.26-27) 10 Verstocke das Herz dieses Volkes und laß ihre Ohren hart sein und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich bekehren und genesen. (5. Mose 29.3) 
   11 Ich aber sprach: HERR, wie lange? Er sprach: Bis daß die Städte wüst werden ohne Einwohner und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüst liege. 12 Denn der HERR wird die Leute fern wegtun, daß das Land sehr verlassen wird. 13Und ob der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie eine Eiche und Linde, von welchen beim Fällen noch ein Stamm bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein. (Jesaja 4.3)

Meine Gedankensplitter dazu:

1.   Klären: Was hat diese Perikope mit der Dreifaltigkeit zu tun? (Peri-Kope = Aus-Schnitt, also zur gesonderten Betrachtung herausgenommener Abschnitt.)

2.   Jesaja gilt aus christlicher Sicht als einer der wichtigsten Propheten der Jüdischen Bibel (AT), weil bei ihm das Erscheinen des Messias vorgezeichnet sei.

3   Jes 6 ist das Dokument der Berufung des Propheten, und zwar sogleich mit einem für´s erste schwer nachvollziehbaren Auftrag: Führe Jerusalem vor, indem du dieses Volk ohne Ohren und Augen vollends ins Elend zwingst, damit sie bis zum Stumpf vertilgt werden und erst danach etwas Neues wird wieder wachsen können. Kann man den letzten Satz so verstehen: Aus dem Stumpf wächst wieder etwas? Assoziation: Im Weihnachtslied Es ist ein Ros (eigentlich ein Reis, also ein junger Trieb, der aus einem Wurzelstock zart entspringt; nicht er Wurzelstock ist zart sondern der frische Trieb!) entsprungen aus einer Wurzel zart wird auf Jesaja bezogen: ... wie uns Jesaja sagt ... Gemeint sind dabei die Prophezeiungen des Propheten, dass der Messias komme, an anderer Stelle des Jesajabuches. Das Bild des jungen Triebs ist aber in Jes 6,13b ebenfalls da: Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein.

4   Das war das Pferd vom Schwanze her aufgezäumt. Zuerst einmal geht´s in Jes 6 natürlich um die Berufung des Propheten selbst.

5     Nach allem was ich aus eigenem Träumen weiß, nächtlich, nicht im Dösen, das sich jahrzehntelang in einer epischen Fülle eingestellt, wiederholt, gesteigert und wieder zurück gezogen hat, vom Material her etwa dreibändig, Großformat, nach all dem muss ich den Berufungstext bei Jesaja als Traum betrachten. Selbst wenn es sich um eine sogenannte Vision handeln sollte, hat diese notwendigerweise den Charakter des nicht Rationalen. Dabei vermengen sich Bilder in nicht selten unrealistischer Weise und signalisieren Bedeutungen, die in tiefen Schichten liegen und aufgeblättert werden müssen, wenn man sie verstehen will. Sie nur an der Oberfläche des Textes, sozusagen als Realbericht zu nehmen, geht meines Erachtens nicht. Versucht man zudem, sich die Weltsicht eines gebildeten und sozial abgesicherten Bürgers von Jerusalem kurz vor dem Babylonischen Exil vorzustellen, ergeben sich mir folgende Haltepunkte:

Yo Gi Oh - Karte
a)   Die Erde ist ein Spielfeld weltlicher Mächte und Kräfte, repräsentiert durch Machthaber in Glanz und Prunk samt ihrem (militärischen) Potential.
b)   Für Juden ist der oberste Herr und Kriegsherr der eine Gott, der keinen Eigennamen hat (außer, seit Moses: Ichbinda), von dem es kein Bild gibt, eines zu machen nicht sinnvoll und deswegen streng verboten ist, und den man nicht sehen, geschweige denn ansehen kann, weil man sonst verzehrt wird von der Gluthitze seines Feuers.
c)   Jerusalem ordnet sich der Tempelhierarchie unter.
d)   Die Welt ist ein Schlachtfeld des Überlebens, nahrungstechnisch und sicherheitstechnisch. Wer vom Pfad der Tugend und gesellschaftlicher Ordnung abweicht, wird von Gott streng bestraft, bis hin zur Vernichtung. Gleichwohl buhlt man um die Huld Gottes und sieht Zeichen für Zuteilung oder Verweigerung in allen Phänomenen der belebten und unbelebten Natur.


Yo Gi Oh - Karte
e)   Für die Vorstellung der überirdischen Mächte haben sich schon seit Jahrhunderten Bilder und Bilder von Figuren und Rollen herausgebildet, die man im gesamten Orient dargestellt sieht: Geflügelte Wesen, thronende Wesen, feurige Wesen, Mischwesen aus Tier und Mensch, gefräßige und menschenverschlingende Wesen, übermächtige Kriegsmaschinen und Kriegshelden, Götter, die hinter den Naturgewalten und Schicksalen stehen, persönlich, im Streite miteinander und unberechenbar. Insgesamt ein Panoptikum, das von Menschen erdacht ist und bis heute fasziniert. Siehe auch die japanischen Pokemon-Figuren, vor allem auch die Yu-Gi-Oh-Karten, mit denen Buben spielen, auf denen alle diese phantastischen Figuren und ihre Mächte und Ohnmächte, Stärken und Achillesfersen minutiös dargestellt sind.
f)   Ich behaupte, dass Jesajas Berufungsvision aus der Vorstellungswelt jener Zeit ihre Bilder hat und keine Realschilderung eines objektiv gegebenen Fakts ist.
g)   Unter Fakt verstehe ich etwas, das auch außerhalb von mir, von anderen nachgedacht, überprüfbar und reproduzierbar ist.

6   Woher hat Jesaja seine Traumbilder? Sind sie ihm gegebene und haben sie nichts mit seinen Erfahrungen in der Wachheit zu tun? Oder nehmen sie Erfahrungen der Wachheit und collagieren mit ihnen etwas Neues, ohne die Fesseln der Ratio ? Und hätte dann dieses Neue Anspruch auf Bestand in der Welt des Wachseins, in der Jesaja dann predigt, prophezeit, warnt und andere überzeugen will?

Yo Gi Oh - Karte
7   Jesaja sagt lapidar: Ich habe den Herrn gesehen. Das ist, so weit ich weiß, einmalig in der Bibel. Nicht einmal Moses hat den Herrn gesehen, obwohl er mit ihm einen mehr als intensiven Austausch hatte (Sinai, 10 Gebote, Dornbusch).

8   Jesaja sagt aber nichts Näheres über über sein Sehen des Herrn. Stattdessen beschreibt er die Seraphen. Diese galten als die gottnächsten himmlischen Wesen, gefolgt von den Cheruben. Von beiden Vorstellungen gab es in der Antike vielerlei bildliche Darstellungen. Zum Beispiel an der Bundeslade. Dann die Sphinxen in Ägypten, sicherlich diverse "Götzenbilder", Figuren an Stadttoren und besonderen Plätzen, Standbilder aller Art, Einritzungen und Schmuckgebilde. Solche Darstellungen dürfte Jesaja gekannt haben. Dann wäre nicht verwunderlich, wenn sie in seine Traum- oder Visionswelt einfließen. Außerdem kannte Jesaja wohl den Tempel in Jerusalem nicht nur von außen. Nach meiner Lektüre gehörte er zu einer privilegierten Schicht, die weit hinein Zugang gehabt haben dürfte, wo er sicherlich Eindrücke des Hohen und Großen hatte, das sich auch im Traumbild umsetzen und erweitern lässt.
Cherub, auch er hat sechs Flügel



Ich selber hatte einst eine Traumbegegnung mit einem (mit einer Art) Engel, auf freiem Feld trat der auf, ca. 80 Meter hoch, wie ein Turm, und von einer ehernen Lautstärke im Rufen, die mich erschüttert und gleichzeitig eingehüllt und geschützt hat. Seither denke ich mir Engel nicht als Flügelwesen mit Gesicht sondern etwa wie riesige Roboter - das ist nur ein Versuch, den Eindruck weiterzugeben - allerdings nicht aus Metall und Elektronik sondern aus wehender Stärke, aber eben mit Gestalt und kaum begrenzter Kraft.
Die Frage allerdings muss offen bleiben: a) "Sieht" Jesaja Bildcollagen, die sein Gehirn aus dem produziert, was es in sich trägt, oder werden ihm b) von außen, also in diesem Falle vom Herrn, Bilder eingelegt, oder - falls b) - bedient sich c) der Bildeinleger dabei der Bilder, die in Jesaja da sind oder projiziert er d) neue in das Wahrnehmen des Jesaja?

Cheruben im Tempel, Fantasiebild.
9   Die Visionsbericht Jes 6 muss so eindrücklich gewirkt haben, dass er bis heute die Vorstellung von Seraphim (Mehrzahl von Seraph, bedeutet soviel wie Hitzebringer, auch Schlangen wurden so bezeichnet, deren Biss Feuer im Leib erzeugt) und von der geradezu tumultartigen, nicht fassbaren Großartigkeit der Heiligkeit im und um den Herrn geprägt hat. Das Bild der auf und ab steigenden Engel, oder hin und her wogenden Schallrufe, das man ja auch aus der Weihnachtsgeschichte kennt, das ängstigt, weil so erdrückend gewaltig, so dass die Engel erst einmal sagen müssen, fürchtet euch nicht, hat die ganze einschlägige Literatur und Bilddarstellung des Abendlandes zu diesem Komplex geprägt. Mir fällt ein eine Illustration in Dantes göttlicher Komödie. (Bild suche ich noch)

10   Das dreimalige Heilig (Tris-Hagion) samt dem kompletten Zitat in Vers 3 ist heute noch das Zentrum der so genannten Präfation, des Hochgebetes der katholischen Messe (Sanctus), Höhepunkt der Vorbereitung der Transsubstantiation in der Wandlung (Brot wird zum Leib Christi). Diese liturgische Rolle zeigt die überragende Bedeutung der Jesaja-Vision für das jüdisch-christliche Gottesbild und den Kult.

11   Jesaja biete sich zur Sendung an. Andere Propheten oder Figuren des AT, die der Herr als Mitarbeiter im Visier hatte, haben sich anfangs eher geziert oder dem Appell zu entziehen versucht (etwa Jonas). Demgegenüber erweist sich Jesaja nach der Berührung seiner Lippen durch glühende Kohle geradezu als eifriger Musterschüler. Wie deutet man das?

12   Welche gewichene Schuld, welche gesühnte Sünde ist gemeint in Vers 7?

13   Jesajas Vision lässt sich datieren: 736 v.Chr., "als König Usija starb". In dieser Zeit bedrängte das Assyrische Reich unter Tiglatpileser das jüdische Land. 722 kommt es zur Eroberung des Nordreiches, die gesamte jüdische Oberschicht wurde ins Exil geführt (Babylonische Gefangenschaft). Frage: Ist es denkbar, was in den Evangelien später gang und gäbe ist, dass erlebte Geschichte (Niedergang Jerusalems und des Tempels) im Berufungsbericht des Jesaja als prophetische Ankündigung und die eigentlich unverständliche Drohung des Herrn (selbst in Sodom und Gomorrha ließ er mit sich feilschen!), ohne Gnade bis auf den Stumpf auszuradieren, bekannt war und somit begründet in die Prophetie in Jes 6 Eingang gefunden hat?

14   Jesaja bedeutet Gott hilft (also die hebräische Urform des schwäbischen Gotthilf). Da spüre ich einen Widerspruch zu dem geradezu sintflutstrengen Hinweis des Herrn, Jesaja soll solange das Volk vorführen, bis es vollends getilgt sein werde. Irgendwas passt da oder verstehe ich da nicht.

15   Ich habe heute fast 10 Predigten evangelischer Theologen zu Jes 6 im Internet gelesen, vom Prof. Dr. Dr. bis zum Studenten. Alles nicht ganz so sehr berückend. Viele Wörter und Sätze. Offenbar ein schwer zugänglicher Text mit homiletischen Hürden. (Homilie = Die Kunst der Predigt, des Austauschs).

Und hier noch ein Bild von Hieronymus Bosch, dem Maler des ganz normalen Grauens, Wahnsinn, der Hölle, des Himmels, des Unwirklichen und des nur subjekitv Wirklichen.


Hieronymus Bosch, Gefallene Engel

(Alle Abbildungen aus Google Bilder)