Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)

Camilla Maria Schweizer (1892 - 1962)
Meine verehrungswürdige Oma. Sie hat mir gegeben was mich umtreibt im Haus.

Samstag, 24. Dezember 2011

Das fühlt man, tief drinnen!

Horst Krause heißt Horst Krause im Film wie im richtigen Leben. Der brandenburgische Schauspieler ist durch sein Rolle des gleichnamigen Polizeiwachtmeisters Krause berühmt geworden. Im zweiten seiner Familienfilme [Krauses Braut, 2011] kommt es zum Streit mit seiner Schwester Meta. Die will Krauses Kurbekanntschaft Rudi heiraten [Krauses Kur, 2009] und spricht von Bestimmung. Da hebt Krause erregt seine Stimme und doziert: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Er lässt keine Sekunde Zeit zum Überlegen,  stößt mit zwei Fingern immer wieder gegen seine Brust und gibt selbst die Antwort: Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Horst Krause als Horst Krause mit seinen ledigen Filmschwestern.
Von links: Meta, Horst, Elsa (Google-Bild).

Vor wenigen Tagen habe ich das im Fernsehen erlebt. Nicht gesehen. Erlebt. Es hat mich geradezu aufgeweckt. Da weist mir das Drehbuch einer Familienkomödie einen möglichen Weg durch meinen Gedankendschungel. Gibt mir keine Antwort, sondern zeigt mir eine Tür, hinter der sie sein könnte, die Antwort, die Lösung. Besser als Lösung wäre: die Einsicht, die Erkenntnis oder die Ruhe für meine Gedanken.

Im Advent macht man Türchen auf. Man lässt sich jeden Tag überraschen, obwohl man weiß, was heraus kommt, wie die Kinder sagen. Nach dem Krieg waren es transparente Bildchen, die vor einer Kerze zu leuchten begannen. Am 24. Dezember das große Türchen mit dem Jesuskind in der Krippe. Heute sind es Schokokügelchen von Lindt. Hat mir meine groß gewordene Anna geschenkt. Oder Zettelchen mit klugen und milden Sprüchen. Und in der Stadt machen sie sogar lebendige Adventskalender.

Schon als Kind wollte ich den Adventskalender nicht missen. Aber seine fehlende Tiefe hat mich enttäuscht. Denn hinter den Türchen war nichts, räumlich gesehen. Nur Zellophanpapier.  So wie auf den Vorlagebildern meines Steinbaukastens: Die Mauern standen ohne Raumtiefe auf dem Papier. Zweidimensionale Fassaden in Blau, Rot und Gelb.

Wie oft habe ich seither die Weihnachtsgeschichte gehört, sie erzählt, musiziert oder gespielt? Gerade vierzig Mal, oder fünfzig. Nicht viel. Aber es hat sich von Mal zu Mal etwas verschoben, geändert, umgestülpt. Das mag ich eigentlich nicht. Ich hätte es gerne stabil, geborgen und sicher. So wie ein Heiligabend. Ein Idyll ohne Zeitlimit, mit Kerzenschein und wohlwollenden Gesichtern. Heute fürchte ich das Idyll. Es ist künstlich und ich weiß nie, wann die Spannungen zwischen den Angehörigen wie Beulen aufbrechen  - dieses ekelhafte Wort, so bescheuert wie Familienmitglieder.

In den Weihnachtsliedern habe ich mir das Idyll bewahrt. Eine ganze Reihe davon darf ich morgen Abend in der Christmette spielen, als Organist meiner Gemeinde. Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein macht mich glücklich beim Spielen (die Kurzwendung zur Dominante bereits in der ersten Zeile, von F-Dur nach C, erlebe ich wie eine Metamorphose, Strophe für Strophe), Es ist ein Ros entsprungen versunken und selig (Die Tonwiederholung zu Beginn sind dem Nun danket alle Gott frappierend ähnlich: Zum selben Ton verschiebt sich die Harmonik tektonisch). Zum Schluss kommen Oh, du fröhliche und schließlich Stille Nacht. Diese beiden Lieder stehen nicht im katholischen Gesangbuch, Stille Nacht wenigstens als Gedicht. So, als ob das, was die Menschen bewegt, das theologische Examen nicht bestanden hätte. Ich spiele beide Lieder für die Menschen, die an Heiligabend auf der Empore bis zu meinem Spieltisch stehen. Und sie brauchen kein Gesangbuch, keine Vorlage um selig zu sein, in diesem  Moment. Manche strahlen, einigen versagt die Stimme und einige heulen. Und ich bade sie in einem Strom von Wohlklang, den ich noch vor 40 Jahren zum Kotzen fand. Weil ich die Fassade nicht mochte. Ich wollte Substanz. Wahres statt Gesetze.

Psychologen sagen, Weihnachten sei das Fest der Familienkonflikte. In der Tat, schon als Bub habe ich das Missverhältnis zwischen Alltag und Heiligabend gespürt, habe gezweifelt an diesen Ebenen brüchiger Echtheit, die von den Eltern ausgebreitet worden sind. Heute so, morgen so, und gestern war wieder alles ganz anders. Ich habe aber auch gemerkt, dass ein unsägliches Sehnen und Hoffen aus allen Herzen und Gesichtern gesprudelt ist. Harmoniebedürfnis, ja, Harmoniesucht nennt man das heute, als ob dadurch mehr getan wäre als eben ein Etikett beschrieben. Und ich wusste nicht warum das so ist. Als Student haben wir Weihnachten den Kragen rum gedreht, sind rechtzeitig auf eine Hütte verschwunden, haben vier Tage lang gesoffen und Skat gespielt und danach siegessicher festgestellt: War was? Es war nichts. Alles bleibt beim Alten. Verlogenes Establishment.

Ich glaube nicht, dass die Leute deswegen heulen. Sie heulen, und ich heule, weil eine Fassade weggezogen wird wie ein Vorhang. Aber was tut sich dahinter auf?

Die Wirren der Familie, die Abweichungen von der Norm sind ein gewaltiger Plot, wie die Drehbuchschreiber sagen. Bernd Böhlich spielt als Drehbuchautor und Regisseur der Krause-Filme damit virtuos. Und Peter von Matt, der Schweizer Literaturwissenschaftler, sagt, Literatur habe nur ein einziges Thema. Prosa und Lyrik, Bühne und Film kennen nur dieses eine zentrale Thema, sagt er beschwörend: Den Familienkonflikt, die Spannungen und Dreiecksgeschichten, die Erziehungsproblem, die Eifersucht, den Hass der von der Liebe übrig geblieben ist, Verzweiflung, Rache, Versöhnung und Vernichtung.

Da hat Lukas einen Gegenentwurf verfasst, der die westliche Welt anrührt bis heute. Die Heilige Familie mit Vater, Mutter, Kind, mit Nachbarn, Stallvieh und großen Tieren, hohem Besuch aus Arabien und Afrika. Keine Probleme, nur heile Welt? Freilich, es gibt Probleme, die liegen aber da draußen, in den Bedingungen, im Bühnenbild, nicht in den Herzen: Keine Herberge, kein Bett, Stallwärme nur von schnaufenden Tieren.

So habe ich Weihnachten kennen gelernt, kurz nach 1945, als es buchstäblich nichts zu fressen gab und die Eltern und Großeltern die Seligkeit aus Nichts inszenierten. Innen drin jedoch stimmt alles: Vater, Mutter, Kind, Nachbarn. Harmonie satt. Und Glück und Zufriedenheit. [Ich muss nachtragen: Dass Oma und Opa, Mutter und Vater damals am Boden schleiften, weil ihre Zukunft verbrannt, die Kassen leer und das einzige Kapital die Hoffnung auf Besserung war, das habe ich nicht merken können. Die Großen haben es nur durch Tränen mitgeteilt, und ich dachte, sie weinten vor Glück. Bald habe ich gemerkt, dass die Oma tief verletzt war, durch den Krieg und den Verlust ihres Sohnes, gerade mal vier Jahre her. Meine Oma sieht man in diesem Blog ganz oben: Mein Engel auf Erden und hoffentlich auch im Himmel. Als sie im Sarg lag, habe ich die katholische Tante Anna gefragt, ob die Oma jetzt im Himmel sei. Da hat die Papistin mit wichtiger Miene gesagt, das wisse sie nicht. Oma war nämlich evangelisch getauft und von Beruf die Liebe. Ab da wusste ich, dass etwas nicht stimmen kann. Ich war 18. ]

Und so viel Wonne ist im Stall von Bethlehem, dass die Engelein auf dem Stallgiebel jubilieren und jauchzen. Das ist zwar nicht von Lukas, aber das ist draus geworden. So wie das große Fressen, und wenn mir der Gabenteppich unterm Christbaum wie ausgekotzte Überflüssigkeiten erscheint, und nach 17 Päckchen die Tochter meint: Papa, etwas wenig! dann sitze ich in der Krise. Das Mädele hielt Weihnachten für einen ewigen Fluss von Überraschungen. Und damit liegt sie sogar goldrichtig. Die Überraschungen liegen aber nicht vor uns sondern in uns.

Mir gefällt Weihnachten sehr, aber es hält nicht an. Es besitzt keine Nachhaltigkeit, wie man heute sagt. Für mich ist es nicht nachhaltig. Weil mir diese trauten Bilder eine Antwort auf meine zentrale Frage zu verbauen scheinen. Die will ich gleich und unverblümt nennen. Sie ist ebenso unersättlich wie die Augen des Kindes, nachdem alle Päckchen ausgepackt sind, die offensichtlich noch nicht das Kind gesättigt haben, weil es nicht das bekommen hat, was sein Sehnen stillen könnte. Und so entscheidet sich Weihnachten tatsächlich unterm Tannenbaum. Es wird ent-schieden: Weg mit dem Tand, der an die Stelle des Eigentlichen gerückt ist - aber wo liegt es, das Eigentliche?

Meine Frage lautet:
Was ist das für ein Gott, der irgendwo sitzt und von irgendwoher einen Sohn auf die Erde schickt, ihn vor Ort einer 14-Jährigen namens Maria in den Schoß legt, um diesen nach 33 Jahren für meine Sünden schlachten zu lassen? Woran kann ich glauben, ohne in einem Netz von Theologismen kleben zu bleiben, in dem man sich ebenso verfangen kann wie im Netz aus Konsum und Gier?

Ich drehe und wende es wie ich will und finde nur diese Antwort: Ein solcher Gott ist ein von Menschen gemachter Außengott. Ein antiker Olympier, der irdische Mägdelein erwählt, die ihm ein Kind schenken. Halbgötter nannte man damals diese Kinder, und es gab viele davon. Konstrukte des bewundernden Hinaufschauens. Jesus, so sagen die Evangelisten indirekt, war der erste konkrete Halbgott, einer zum Anfassen, einer der tatsächlich und überzeugend das Reich Gottes auf Erden erwartete. Überzeugend für die die Denkwelt der Antike, meine ich, aber nicht ausreichend für meine Welt. Weil ich sonst 2000 Jahre Entwicklung negieren müsste. Für mich sind "Sterne nicht mehr Löcher im Himmel" - wo habe ich das gelesen? Und wenn was dran ist am Evangelium, dann kann es nicht durch kanonisierte (unverrückbar festgeschriebene) antike Denkmodelle überzeugen. Aber genau das verlangt meine Kirche, und ihre Protagonsiten hüllen sich dazu in die Gewänder der drei Weisen aus dem Morgenlande, in roten Schuhen und unter Goldkronen.

Kann man Mythen lebendig werden, materialisieren, geradezu gerinnen lassen? Zweifeln nicht schon Kinder am Nikolaus in concreto, obwohl sie seine Geschichte gerne hören und er im Reich ihrer Vorstellung ein beachtliche Rolle spielen kann. Kein Wunder, dass sich alle Welt diesen Gott als Person vorstellt, mit mächtiger, großer, unnahbarer Gestalt. Ein Abbild des eigenen Vaters, in dem die Mutter nicht mehr vorkommt, ein Gesetzeschreiber und Richter, ein Weltenherrscher, der alle zermalmt und dennoch als Inbegriff der Liebe gelten soll? Eine von mir getrennte Person, und doch ein Du, wie es die Pfarrer predigen, ein personaler Gott, der mir nachläuft, aus Liebe, und vor dem ich doch nur Angst habe? Der so weit weg ist, dass ich als ungenügendes Gegenüber auf sein Wohlwollen angewiesen bin, das ich mir aber erst verdienen muss. Und wenn ich das schon nicht kann, dann wenigstens über den Opfertod dessen geschenkt bekomme, der einmal ein Jesulein war, jetzt aber zum Lamm Gottes ausgewachsen ist, das geschlachtet wird, für mich, was mir großmütig gewährt wird, aus Gnade (Wofür, denn wem habe ich etwas angetan, außer dass der mich ins Leben gerufen haben soll, der mich bereits auf die Knie zwingt, wenn die Nabelschnur noch nicht durchschnitten ist?), ich, eine von der Erbsünde belastete Null, schon böse und korrekturbedürftig bei Geburt (welch menschenverachtendes, widerliches Konstrukt!) - eine Fehlgeburt, wie Paulus sich selber nannte, dieser eifernde, pharisäische Skrupulant und Konstrukteur eines theologischen Erlösungsgebäudes, der das Reich Gottes ins Kommende verlegt, weil es hienieden ausgeblieben ist. Bin ich das: Ein Gefallener, bevor ich auch noch auf den Beinen war? Und schon als Bub habe ich bei der Kreuzwegandacht geweint, weil ich mich so schämte, dass der arme Herr Jesus nun für mich und meine Sünden gekreuzigt wird.

Ich sage es frei: Mit diesen Vorstellungen breche ich nun. Ich ecke damit an, nicht nur bei den theologischen Lehrern und ihren Lehren (die sind interessant aber mir relativ wurscht, solange sie nicht aus dem Hamsterrad hinaus führen), ich ecke an, zwischen dogmatischen Wänden eingesperrt in eine Betonzelle, in der ich mich wund toben kann oder resignieren, aus der ich aber nicht entkomme zur Freiheit des Lichts, des Geistes, der Wahrheit! Und jetzt ist wieder Polizeiwachtmeister Krause dran: Das ist tief drinnen, da drin!

Und plötzlich rücken die antiken Bilder der Religiosität vor 2000 Jahren auf den Platz, wo sie hingehören, achtbar, aber eben nur grandiose Stationen einer fortwährenden Metamorphose, die nicht diesen Bildern widerfährt, die aus diesen Bildern sich verändert und umformt, bis zu mir (und was sie werden, wenn ich nicht mehr hier bin, kann ich allenfalls ahnen): Auf ihre historischen Podeste gehören die Bilder, als Zeugnis vergangener Denkweisen und Vorstellungswelten.

Und ich komme auf den Punkt. Gott ist nicht irgendwo, wo er alles hört, weiß und notiert. Er ist in mir. Sonst hätte das Wort vom Fleisch-Werden des Logos keinen Sinn. Diesen Sinn muss ich in mir finden, Woanders erreicht er mich nicht. Das Brot des Lebens macht mich nicht satt in der Hand des Priesters. Erst wenn es in mir ist kann es sättigen. Nur in mir kann ich Gott finden. Er ist nicht vor 2000 Jahren in die Welt gekommen. Er kommt ständig in die Welt. Er ist die Welt. Er wird Mensch in mir und ist Ich (nicht ich bin Gott, sondern er ist bereits, was ich werden kann, wenn ich ihn zulasse, in mir lasse, ihn dort suche.) Er west in mir und in allen Dingen. Und so wie das Jesulein in einer Krippe aus Stroh gelegt worden ist, so liegt er und wirkt er in mir und durch mich, und ich muss lernen dorthin zu finden und zu hören in die Stille seiner allumfassenden Gegenwart, die selber nichts anderes ist als eben er selbst. Und das ist wohl der schwerste Weg, der hinunter in meine Tiefe führt (seltsam, dass ich dabei nicht nach oben denke, zum Himmel, sondern nach unten, auf den Grund), hinein in meine Mitte (medi-tierend), wo man nicht mehr redet, streitet, rechtet und argumentiert, wo man schaut und zulässt, wartet und hofft.

Mein Kronzeuge ist Jesus selber. Im 14. Kapitel des Johannes-Evangelium ("Abschiedsreden"; merkwürdig) wird er von seinem Freund Philippus gefragt: Herr, zeige uns den Vater, und es ist uns genug. Welch rührende Bescheidenheit eines Suchenden, der wartet und noch nicht sieht! Denselben Wunsch habe auch ich, seit meiner Schulzeit. Und Jesus wird unwirsch: So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus. Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater!

Jesus ist fassungslos, weil er merkt, dass sein Freund Philippus auf der Leitung steht. Du hast mich nicht erkannt heißt nicht, du hast nicht gesehen, dass ich Gott bin. Es heißt, du hast nicht begriffen, dass der Vater in mir ist, so wie er auch in dir und in uns allen ist. Und dann fährt er fort: Glaubst du nicht, dass ich in Eins mit dem Vater bin, und der Vater in Eins ist mit mir? Die Worte, die ich zu euch sage, sage ich nicht aus mir. Der Vater aber, der bleibend in mir ist, tut seine Werke. [Übersetzungen von Fridolin Stier, Tübingen].

Wenn Jesus damit auf eine Exklusivbeziehung zwischen Gott und ihm selbst hätte verweisen wollen, müsste man sich fragen, warum seine Jüngerinnen und Jünger dann bei ihm geblieben sind. Das wäre ein schöner Freund, der alleine isst, der nicht teilt, der privilegiert ist und sich ein paar Anhänger als Beifallklatscher und Zujubler hält. Ein Jesus, der zwar Wein und nicht Wasser predigt aber den Wein alleine trinkt, der ist nicht der, der uns in vier Evangelien facettenreich geschildert wird. Dann wäre Jesus ein Verführer gewesen, die Beziehung zu ihm eine Einbahnstraße. Am Ende des Gesprächs mit Philippus fügt er an: Wenn nicht [wenn ihr also das nicht fassen könnt], so glaubt um eben der Werke willen.

Beim Exegeten Frank Schleritt (Göttingen) lese ich zu diesem Schriftvers (Joh, Kap.14,7): Wenn Gott nämlich in Jesus erkannt und gesehen werden kann, dann ist derjenige, der Jesus sieht, bereits im Stand des endgültigen und vollständigen Heils. Ich ergänze: Diese Sehen kann nur mich als Projektionsfläche haben, dass ich also in Jesus sehe wie es auch in mir ist, denn wenn man es nicht hat, kann man es auch nicht erjagen. Meinte J.W.v. Goethe.

Ich gehe davon aus, dass den Szenen des Johannesevangeliums wenig historischer Wert im Sinne eines Berichtes zukommt. Es handelt sich jedoch um eine Art Zusammenschau, um einen Extrakt aus den Erfahrungen mit ihm, bereits durch jahrzehntelange Predigt geprägt, eine Deutung des Redens und Wirkens Jesu, eingebettet in ein Drehbuch mit anspielungsreichen Szenen, die wiederum der Deutung bedürfen.

Wenn ich diese strenge Zurechtweisung des Philippus lediglich verstehe als Beleg für die personale Übereinstimmung zwischen Gottvater und Gottsohn, dann wäre ich draußen. Ein Zuschauer, den das nicht berühren kann, weil er auf Distanz gehalten wird und durch fromme Übungen vielleicht, vielleicht einmal am Glanz des Ewigen teilhaben darf. So wie Philippus. Der ist auch immer noch draußen. Weil er zu den Schlichten gehört, so wie wir alle, wenn wir ehrlich sind. Jesus aber will ihn hineinnehmen in diese fundamentale Einsicht: Schau her, Freund, der Vater ist in mir. Man könnte anfügen: Und so ist er auch in dir, denn es ist wie beim Weinstock und seinen Reben, die hängen zusammen und der Saft fließt durch Reben und Stock. Das steht ja auch in diesen Schriften.

Wäre Jesus ein anderer als ich oder Philippus, also der vom Vater einzig erwählte, geliebte Sohn, dann hätte er nicht alle Menschen in die Anrufung Gottes als Vater, als Papa geholt. Offensichtlich will er Philippus die Augen öffnen für etwas, was der doch schon längst hätte raffen müssen (meint Jesus), weil er ja schon immer dabei ist: Gott, der Vater, ist in uns, wir leben aus ihm, weil er in uns ist. Die Psychoanalyse von C. G. Jung hat gezeigt, dass die großen Figuren (Archetypen) in jedem von uns schon eingelegt sind wie ein Erbe der geistigen Evolution, kollektiv: Der Vater, die Mutter, der Prinz, die Königin, das Ungeheuer, die Hexe, der Kobold, die Fee. Spielarten der Ich-Rolle. Auf dem Urgrund aber west Gott und hält alles in Gang.

Und nun schießt sich für mich der Kreis. Weihnachten ist das Fest, in dem wir die göttliche Anwesenheit in uns immer wieder neu verstehen und erleben wollen. Wir sehen das als Ankunft. Und dabei ist er doch schon immer da. Ich bin der Ich-bin-da, lässt er Moses begreifen. Und weil dafür Worte nicht hinreichen, greifen wir zu Bildern: Er kommt in uns zur Welt, wird in uns Mensch, also so, wie wir als Wohnung des Herrn gemeint sind, nach seinem Bilde. Und davon gibt es viele Abbilder. Mittlerweile fünf Milliarden. Alle anders, aber alle eine Wohnstatt Gottes, der in seiner Welt ist, immer wieder in ihr ankommt und sie immer wieder neu erschafft, unablässig, seit Anbeginn.

Und mit diesen Gedanken, die ich recht betrachtet immer noch nicht ganz ausgelotet habe und das vermutlich auch nicht mehr schaffen werde vor meinem Tod, mit diesen Gedanken kann ich ganz zart singen: Es ist ein Ros entsprungen. Und Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein, denn Bethlehem ist mein Leib.

Sprachlich: Das hebräische Bet heißt Haus und lehem oder lahm heißt Fleisch, Brot, Fisch, je nach orientalischer Sprache, also Grundnahrungsmittel, wie in wikipedia übersetzt wird. So kann man also wunderbar mit der Sprache spielen und immer nur finden: In Bethlehem wird mir Nahrung gegeben, in mir geschieht das, was Gott zeugt und erzeugt!

Bethlehem ist meine Tiefe, meine Gebärmutter, die männlich und weiblich zugleich in mir liegt wie ein Schatzkästchen, das auf den Samen wartet. Will sagen: Es ist eine Knospe aufgegangen an einem Wurzelstöckchen, sehr zart und lieb, und immer Ich und Du und Wir, und es heißt Anima und Animus, es heißt Seele oder Kind, es heißt Kind Gottes oder Bettchen Gottes, in das er sich bei dir und bei mir legt. Und wir wollen es ahnen und still werden und so lange gemeinsam nach innen schauen, bis uns dieses Geheimnis durchflutet in uferloser Fülle.

Nochmals Horst Krause zum Schluss: Wie kriegt man das raus was seine Bestimmung ist? Das fühlt man! Tief drinnen! Da drin!

Die Bilder der Weihnacht, vom Engel, der Maria ankündigt, dass Gott sich in ihr einnisten will, bis zum Engel auf dem Felde, der unsere Furcht lösen will, die Furcht wohl vor uns selber, vor der Leere in uns, weswegen die Engel singen: Euch ist ein Kindlein geboren! Das heißt in euch, ihr habt es bekommen! Wo denn sonst, wenn nicht in euch selber, und ihr werdet es finden, nackt und bloß, ganz klein wie ein Glimmen, das man anfachen muss, Bilder vom Krippelein und von fürstlichen Geschenken, die dem zuteil werden, der sich einlässt. Und alle diese Bilder weisen den Weg nach innen: Er ist da, kein Er und keine Sie alleine, ein Es, das zum Du wird, in das ich verschmelzen kann. Es ist angekommen, entdecke ihn, betrachte sie, anschaue das Große im Kleinen!


Sonntag, 11. Dezember 2011

Gaudete!

Stückchen des 27 km langen Teilchenbeschleunigers in Genf.

Ich ahnte es schon lange: Gott ist ein Bastler, eine Köchin, ein Tüftler, eine Schneiderin und Zwitterin mit Januskopf. In Genf werden übermorgen die Physiker der Welt zusammen kommen, wie die Hl. Drei Könige nach der Geburt des Herrn in Bethlehem. Denen hat ein außergewöhnlicher Stern am Himmel den Weg zu etwas Außergewöhnlichem gezeigt, das im Gewöhnlichen zutage getreten ist.

Schemazeichnung des
Ringbeschleunigers CERN in Genf
Im Teilchenbeschleuniger CERN in Genf treten immer wieder in energiereichen Kollisionen Teilchen auf, die auf etwas hindeuten. Zurzeit weisen sie darauf hin, dass es ein Teilchen geben müsste (Wahrscheinlichkeit bereits bei 99 Prozent; Naturgesetze sind immer eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit einer unter anderen Möglichkeiten mit extrem niederer Wahrscheinlichkeit), das Higgs-Teilchen, das der reinen Energie Masse, also Materie gibt. (Den Zusammenhang zwischen Energie und Masse beschreibt bereits die fast 100 Jahre alte Äquivalenz Einsteins: Energie ist das Produkt aus Masse und dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit.) Das ist, physikalisch gesprochen, nichts anderes als: Energie manifestiert sich in der Welt, wird geboren, wird Welt, so wie wir die Welt begreifen, nämlich als Fassliches, Greifbares, Wägbares, an die der Fuß stoßen kann, die weh tut oder leuchtet, lockt und staunen lässt, sie kommt in die Welt als Teilchen, steigt herab, und damit heraus aus der Sphäre des reinen Lichtes der Anschauung, dessen die Engel schon teilhaftig sind wie Sofakissen, die sich dem Profil des Ruhenden anschmiegen und dessen wir teilhaftig werden wollen. So wenigstens hoffen wir, weil eine Ahnung davon als Proviant auf den Weg gegeben worden ist.

Simulation einer Teilchenkollission,
in der Higgs-Teilchen isoliert werden.
Das Higgs-Teilchen (Higgs-Boson), benannt nach dem brit. Physiker Peter Higgs, wird schon seit 30 Jahren vermutet. Es ist die pure Masse, etwa 120 mal schwerer als ein Proton oder Neutron, aus denen die Atomkerne bestehen, hat aber selber kein Energiepotential wie etwa das Elektron. Bildlich: Das Higgs-Teilchen ist wie ein "Gerücht, das in einer diffusen Menschenmenge die Einzelnen zu Gruppen formt". Dieses schöne Gleichnis ist zitiert in einem aktuellen Bericht der Süddeutschen Zeitung. Mit diesem Bild versuchen Physiker, eine Vorstellung davon zu geben, was im Mikrobereich der Welt passiert, was sie bildet und greifbar macht, was ihr Gewicht gibt. Sehr spannend: Sie sagen "ein Gerücht". Ein Wort also als Kristalliusationspunkt, an dem sich die Teilchen andocken, zu Krümeln, zu Haufen. Kommet zuhauf! Ein Wort, das Fleisch wird: Weihnachten!
Michelangelo: Die Erschaffung Adams. Die Berührung der Fingerspitzen gleichen der Kollission im obigen Bild. Wunderschön und selten beachtet: Die vielen Engel, die, als wären sie Teile von ihm, den Erschaffer umhüllen wie ein Rudel Welpen.

Liebe ist dann wohl die Bündelung von Myriaden dieser Ausformungen, eine Häufung von Wahrscheinlichkeiten, ein Trend. So wie die Position einer Tischplatte das Tischtennisbällchen in die eine oder in die andere Richtung rollen lässt. Wobei die Abweichungen von Null Grad Neigung nur verschwindend gering sein brauchen, um das Bällchen in die eine oder in die andere Richtung in Gang zu setzen. In alle Windrichtungen.
Botticelli, der in der Malerei dem Weiblichen seine Gesichter gab: Ankündung des Erzengels Gabriel an Maria, dass in ihr das Wort Gestalt annehmen und wachsen werde.
Gaudete!

Dies ist das erste Wort des lat. Eingangsgebetes der Messe am 3. Adventssonntag, wonach dieser Tag seinen liturgischen Namen hat - merkwürdigerweise auch von den Latein-fernen Lutheranern und Protestanten gebraucht: Gaudete in Dominum semper - Freuet euch immerfort im Herrn.

Darauf einen adventlichen Glühwein! Und nach dem zweiten und dritten prosten wir auch dem Lieben Gott zu, freuen uns mit ihm und in ihm und über seine Schöpfung, in der wir ein reales Teilchen sind, gewollt, aufgeglüht und verglühend, zurückfallend in das Meer seiner Liebe (so wie die Engelchen bei Michelangelo, in die Gott sich kuschelt wie in Sofakissen). Und mit Jesus sind wir Weinsäufer, Lallen und sagen nicht Prost sondern  Higgs. Eine moderne Form des Halleluja, das auch nichts anderes als "Lallen in Begeisterung" bedeutet: Hillel Jachwäh = Preiset Gott, in seiner Urform ein  gestaltloses Lallen ohne Wortbedeutung, wie der Säugling, der seine Worte noch nicht hat, aber bereits mit Lippen und Zunge zu dem spricht, der ihn liebend betrachtet und im Arm hält. (http://de.wikipedia.org/wiki/Halleluja)

Mittwoch, 24. August 2011

Der kleine Butziwackel

Zwetschgenkuchen mit Streuseln
Unter der Überschrift Der Kleinste kriegt sie alle füllte am 24. August 2011 Viola Katemann das Sommerloch der Stuttgarter Zeitung mit vier Spalten über Pflaumen und Zwetschgen. Behilflich dabei war ihr die Obstanbäuerin Hilde Schön aus Stuttgart-Hedelfingen, die auf dem Markt verschiedene Zwetschgensorten aus eigenem Anbau feilhält. Am Ende gibt es sogar ein Standardrezept für Zwetschenkuchen - mit Hefeteig und Streuseln, also ein bayerischer Zwetschgendatschi, längst nicht so genussreich wie einer aus Mürbteig mit Mandelstiften statt der Streusel.

Die Streusel schreibt man nicht mit äu sondern mit eu, weil sie gestreut und nicht gesträut werden, aber das populärste aller  Fingerspiele, mit welchem Frau Katemann ihren Bericht über die Pflaumen und deren Stieftöchter, die Zwetschgen sinnigerweise eröffnet, schreibt man nicht mit Kleine sondern mit Butziwackel. Wenigstens nach meiner Les- und Hörart.

Fingerspiele-Sammlung
Das ist der Daumen.
Der schüttelt die Pflaumen.
Der liest sie auf.
Der trägt sie nach Haus.
Und der kleine Butziwackel -
Der isst sie alle, alle auf.

So habe ich es gelernt. Frau Katemann indes lässt enden: ...und der ganz Kleine, der isst sie alle, alle auf. Diese Version, die man auch im Internet serviert bekommt, ist in meinen Fingerspielbüchern nicht überliefert und in meiner Erinnerung gleich dreimal nicht. Sie nimmt dem Fingerspiel die abschließende Turbulenz, und die erzeugt man so:

Das Kindchen ist auf dem Schoß und fingert mit den Fingerchen. Der Opa tippt sie an, streichelt sie, biegt sie sanft, rollt sie zur Faust, kitzelt ein bisschen und unterhält damit sein Enkelkind. Schließlich kommt der Sprechvers, schön langsam, große Pause zwischen den Zeilen und nach dem Demonstrativpronomen der, das jede Zeile anführt. Der Opa greift jeden Finger, der vorgestellt wird, einzeln und zieht etwas daran (später reicht es, die Fingerkuppen anzutippen, wozu ihm das Kindlein das jeweilige Fingerchen entgegen streckt). Die längste Pause, mit erhöhter Stimme, gibt es nach dem Butziwackel - und bei der isst sie alle, alle auf schließt die große Opahand die kleinen Fingerchen und wurstelt sie sanft durcheinander, und darauf hat ja das Kindlein gewartet und jauchzt. Mit der ganz Kleine geht das nicht.

In diesem Spiel schlummert der Reiz von Geschichten, die man immer wieder hört. Sie laufen einem Höhepunkt zu, und nach einem kurzen Moment des Zögerns kommt die entspannende Lösung. Die darf nie anders ausfallen als erwartet. Man stelle sich nur mal vor, die Eva hätte zur Schlange gesagt: Nein, diesen Apfel esse ich nicht, du blöde Sau!

Nachtrag 1:

Als Kindlein war mir nicht klar, warum, man bei der zweiten Zeile zum nächsten Finger, dem Zeigefinger wechselt. Ich habe das erste der zu Beginn der zweiten Zeile als ein Relativpronomen gedeutet: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Und das war mir plausibel, weil der Daumen ja der Zupackfinger ist. Erst später hat sich der Schleier gelüftet, und schon war der Sprechvers entzaubert.

Nachtrag 2:

Originalcover von
Max Butziwackel,
der Ameisenkaiser
(Amazon)
Butziwackel ist die Bezeichnung für ein Kind, das gerade laufen lernt. Das Wort fand Eingang in die Übersetzung von Ciondolino, einem Kinderbuch von Luigi Bertelli. Im Deutschen lautet der Buchtitel Max Butziwackel, der Ameisenkaiser. Es gehörte zu meinen Lieblingsbüchern, nachdem ich lesen gelernt hatte. Ich habe es vermutlich bis zu zehn Mal gelesen, und dabei die Welt der Insekten kennengelernt. Es war so spannend wie ein Krimi. Der Bub Max ist zur Ameise verwandelt worden, weil er dachte, die gehen den ganzen Tag nur spazieren, und hat es bei diesen Tierchen bis zum Kaiser gebracht, dabei mehrere Schlachten geschlagen, verloren, und haarsträubende, lebensgefährliche Begegnungen mit Wespen, Ameisenlöwen und anderen Sechsbeinern durchgestanden. Von Max habe ich mehr Standing getrunken als von Eltern und Tanten


Dienstag, 5. Juli 2011

Tageskarte 5. Juli 2011

Wider Erwarten heute nur zu zweit am Tisch: Paule und ich, keine Hausi weil Mittagsschule. Also schnell umgeplant.

Heute gibt es:

Reste-Menü für Männer aus vielen kleinen Zutaten
schmeckt sehr lecker, wie im Urlaub

Reissuppe - aus einem Rest Risotto samt Liebstöckelbrühe (konz.), aus der Gefriere, je eigene Produktion.
Seelachsfilet - aus der gefriertruhe vom Supermarkt, Restportion, gedünstet.
Bratkartoffeln - Eigenproduktion.
Buttergemüse - kleine Tiefkühlportion.
Paprikasalat - rot, gewürfelt mit
Dressing - süßsauer, Marke Paul.
Zitronenkuchen - kleine Schnitte, vom Supermarkt, billiger Restposten, rechtzeitig gekriegt und eingefroren.

Rezept Dressing St. Paul:

Essig, Öl, Kaltwasser wie 3 :1 : 2,
1/2 Zwiebel, Mikrowürfelchen,
1/2 EL Ketchup,
1 TL Salatcreme,
2 EL Buttermilch,
Pries Salz, Prise Zucker,
Prise Salatkräuter oder einige frische Kräuter vom Topf (Thymian und seine Freunde).
Alles mischen und schütteln. Erst kurz vor dem Servieren über die Paprikawürfelchen.

Rezept Bratkartoffeln

Kartoffeln, klein bis mittelgroß, gleich groß, festkochende, zu Pellkartoffeln dämpfen (im Wasser mit 1 Prise Kümmel, oder Dampfgarer.
Pellen, antrocknen und kühlen lassen (auch vom Vortag, dann sogar noch besser, saugen nicht so leicht Fett). In nicht gar so dünne Scheiben schneiden und in
Butterschmalz oder Schweineschmalz sehr heiß kurzbraten. Nicht schichten, sondern eher Boden deckend frittieren, wenden, mit Sieb heraus heben, auf Papier abfetten.
Mit Salz und etwas Majoran würzen.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Seraphen mit sechs Flügeln

Sechsflügeliger Seraph.
Europäische Wandmalerei

Am kommenden Sonntag hat die ev. Kirche zum Trinitatis-Sonntag offenbar Jesaja, Kapitel 6 als Predigttext vorgegeben. Manche Predigerinnen und Prediger ratschlagen noch (in Facebook), wie sie damit umgehen sollen. Weiß ich auch nicht per Stein der Weisen, aber ein paar Einfälle sind mir dazu gekommen heute Nacht.
Ich plaudere hier alles aus, was mir dazu einfällt, ungeordnet, so wie´s in den Kopf kommt.

Der Text aus www.Bibel-online.net, mit Links (vulgo: Verweisen) auf assoziierte andere Bibelstellen:

Jesaja - Kapitel 6

Jesajas Berufung zum Propheten

Des Jahres, da der König Usia starb, sah ich den HERRN sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhl, und sein Saum füllte den Tempel. (Johannes 12.41) Seraphim standen über ihm; ein jeglicher hatte sechs Flügel: mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße, und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth; alle Lande sind seiner Ehre voll! (Offenbarung 4.8) (Habakuk 3.3) daß die Überschwellen bebten von der Stimme ihres Rufens, und das Haus ward voll Rauch. (Hesekiel 10.4) (Offenbarung 15.8) 
   Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. (2. Mose 33.20) Da flog der Seraphim einer zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen gerührt, daß deine Missetat von dir genommen werde und deine Sünde versöhnt sei. (Sacharja 3.4) 
   Und ich hörte die Stimme des HERRN, daß er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich; sende mich! Und er sprach: Gehe hin und sprich zu diesem Volk: Höret, und verstehet's nicht; sehet, und merket's nicht! (Matthäus 13.11-15) (Johannes 12.40) (Apostelgeschichte 28.26-27) 10 Verstocke das Herz dieses Volkes und laß ihre Ohren hart sein und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich bekehren und genesen. (5. Mose 29.3) 
   11 Ich aber sprach: HERR, wie lange? Er sprach: Bis daß die Städte wüst werden ohne Einwohner und die Häuser ohne Leute und das Feld ganz wüst liege. 12 Denn der HERR wird die Leute fern wegtun, daß das Land sehr verlassen wird. 13Und ob der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals verheert werden, doch wie eine Eiche und Linde, von welchen beim Fällen noch ein Stamm bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein. (Jesaja 4.3)

Meine Gedankensplitter dazu:

1.   Klären: Was hat diese Perikope mit der Dreifaltigkeit zu tun? (Peri-Kope = Aus-Schnitt, also zur gesonderten Betrachtung herausgenommener Abschnitt.)

2.   Jesaja gilt aus christlicher Sicht als einer der wichtigsten Propheten der Jüdischen Bibel (AT), weil bei ihm das Erscheinen des Messias vorgezeichnet sei.

3   Jes 6 ist das Dokument der Berufung des Propheten, und zwar sogleich mit einem für´s erste schwer nachvollziehbaren Auftrag: Führe Jerusalem vor, indem du dieses Volk ohne Ohren und Augen vollends ins Elend zwingst, damit sie bis zum Stumpf vertilgt werden und erst danach etwas Neues wird wieder wachsen können. Kann man den letzten Satz so verstehen: Aus dem Stumpf wächst wieder etwas? Assoziation: Im Weihnachtslied Es ist ein Ros (eigentlich ein Reis, also ein junger Trieb, der aus einem Wurzelstock zart entspringt; nicht er Wurzelstock ist zart sondern der frische Trieb!) entsprungen aus einer Wurzel zart wird auf Jesaja bezogen: ... wie uns Jesaja sagt ... Gemeint sind dabei die Prophezeiungen des Propheten, dass der Messias komme, an anderer Stelle des Jesajabuches. Das Bild des jungen Triebs ist aber in Jes 6,13b ebenfalls da: Ein heiliger Same wird solcher Stamm sein.

4   Das war das Pferd vom Schwanze her aufgezäumt. Zuerst einmal geht´s in Jes 6 natürlich um die Berufung des Propheten selbst.

5     Nach allem was ich aus eigenem Träumen weiß, nächtlich, nicht im Dösen, das sich jahrzehntelang in einer epischen Fülle eingestellt, wiederholt, gesteigert und wieder zurück gezogen hat, vom Material her etwa dreibändig, Großformat, nach all dem muss ich den Berufungstext bei Jesaja als Traum betrachten. Selbst wenn es sich um eine sogenannte Vision handeln sollte, hat diese notwendigerweise den Charakter des nicht Rationalen. Dabei vermengen sich Bilder in nicht selten unrealistischer Weise und signalisieren Bedeutungen, die in tiefen Schichten liegen und aufgeblättert werden müssen, wenn man sie verstehen will. Sie nur an der Oberfläche des Textes, sozusagen als Realbericht zu nehmen, geht meines Erachtens nicht. Versucht man zudem, sich die Weltsicht eines gebildeten und sozial abgesicherten Bürgers von Jerusalem kurz vor dem Babylonischen Exil vorzustellen, ergeben sich mir folgende Haltepunkte:

Yo Gi Oh - Karte
a)   Die Erde ist ein Spielfeld weltlicher Mächte und Kräfte, repräsentiert durch Machthaber in Glanz und Prunk samt ihrem (militärischen) Potential.
b)   Für Juden ist der oberste Herr und Kriegsherr der eine Gott, der keinen Eigennamen hat (außer, seit Moses: Ichbinda), von dem es kein Bild gibt, eines zu machen nicht sinnvoll und deswegen streng verboten ist, und den man nicht sehen, geschweige denn ansehen kann, weil man sonst verzehrt wird von der Gluthitze seines Feuers.
c)   Jerusalem ordnet sich der Tempelhierarchie unter.
d)   Die Welt ist ein Schlachtfeld des Überlebens, nahrungstechnisch und sicherheitstechnisch. Wer vom Pfad der Tugend und gesellschaftlicher Ordnung abweicht, wird von Gott streng bestraft, bis hin zur Vernichtung. Gleichwohl buhlt man um die Huld Gottes und sieht Zeichen für Zuteilung oder Verweigerung in allen Phänomenen der belebten und unbelebten Natur.


Yo Gi Oh - Karte
e)   Für die Vorstellung der überirdischen Mächte haben sich schon seit Jahrhunderten Bilder und Bilder von Figuren und Rollen herausgebildet, die man im gesamten Orient dargestellt sieht: Geflügelte Wesen, thronende Wesen, feurige Wesen, Mischwesen aus Tier und Mensch, gefräßige und menschenverschlingende Wesen, übermächtige Kriegsmaschinen und Kriegshelden, Götter, die hinter den Naturgewalten und Schicksalen stehen, persönlich, im Streite miteinander und unberechenbar. Insgesamt ein Panoptikum, das von Menschen erdacht ist und bis heute fasziniert. Siehe auch die japanischen Pokemon-Figuren, vor allem auch die Yu-Gi-Oh-Karten, mit denen Buben spielen, auf denen alle diese phantastischen Figuren und ihre Mächte und Ohnmächte, Stärken und Achillesfersen minutiös dargestellt sind.
f)   Ich behaupte, dass Jesajas Berufungsvision aus der Vorstellungswelt jener Zeit ihre Bilder hat und keine Realschilderung eines objektiv gegebenen Fakts ist.
g)   Unter Fakt verstehe ich etwas, das auch außerhalb von mir, von anderen nachgedacht, überprüfbar und reproduzierbar ist.

6   Woher hat Jesaja seine Traumbilder? Sind sie ihm gegebene und haben sie nichts mit seinen Erfahrungen in der Wachheit zu tun? Oder nehmen sie Erfahrungen der Wachheit und collagieren mit ihnen etwas Neues, ohne die Fesseln der Ratio ? Und hätte dann dieses Neue Anspruch auf Bestand in der Welt des Wachseins, in der Jesaja dann predigt, prophezeit, warnt und andere überzeugen will?

Yo Gi Oh - Karte
7   Jesaja sagt lapidar: Ich habe den Herrn gesehen. Das ist, so weit ich weiß, einmalig in der Bibel. Nicht einmal Moses hat den Herrn gesehen, obwohl er mit ihm einen mehr als intensiven Austausch hatte (Sinai, 10 Gebote, Dornbusch).

8   Jesaja sagt aber nichts Näheres über über sein Sehen des Herrn. Stattdessen beschreibt er die Seraphen. Diese galten als die gottnächsten himmlischen Wesen, gefolgt von den Cheruben. Von beiden Vorstellungen gab es in der Antike vielerlei bildliche Darstellungen. Zum Beispiel an der Bundeslade. Dann die Sphinxen in Ägypten, sicherlich diverse "Götzenbilder", Figuren an Stadttoren und besonderen Plätzen, Standbilder aller Art, Einritzungen und Schmuckgebilde. Solche Darstellungen dürfte Jesaja gekannt haben. Dann wäre nicht verwunderlich, wenn sie in seine Traum- oder Visionswelt einfließen. Außerdem kannte Jesaja wohl den Tempel in Jerusalem nicht nur von außen. Nach meiner Lektüre gehörte er zu einer privilegierten Schicht, die weit hinein Zugang gehabt haben dürfte, wo er sicherlich Eindrücke des Hohen und Großen hatte, das sich auch im Traumbild umsetzen und erweitern lässt.
Cherub, auch er hat sechs Flügel



Ich selber hatte einst eine Traumbegegnung mit einem (mit einer Art) Engel, auf freiem Feld trat der auf, ca. 80 Meter hoch, wie ein Turm, und von einer ehernen Lautstärke im Rufen, die mich erschüttert und gleichzeitig eingehüllt und geschützt hat. Seither denke ich mir Engel nicht als Flügelwesen mit Gesicht sondern etwa wie riesige Roboter - das ist nur ein Versuch, den Eindruck weiterzugeben - allerdings nicht aus Metall und Elektronik sondern aus wehender Stärke, aber eben mit Gestalt und kaum begrenzter Kraft.
Die Frage allerdings muss offen bleiben: a) "Sieht" Jesaja Bildcollagen, die sein Gehirn aus dem produziert, was es in sich trägt, oder werden ihm b) von außen, also in diesem Falle vom Herrn, Bilder eingelegt, oder - falls b) - bedient sich c) der Bildeinleger dabei der Bilder, die in Jesaja da sind oder projiziert er d) neue in das Wahrnehmen des Jesaja?

Cheruben im Tempel, Fantasiebild.
9   Die Visionsbericht Jes 6 muss so eindrücklich gewirkt haben, dass er bis heute die Vorstellung von Seraphim (Mehrzahl von Seraph, bedeutet soviel wie Hitzebringer, auch Schlangen wurden so bezeichnet, deren Biss Feuer im Leib erzeugt) und von der geradezu tumultartigen, nicht fassbaren Großartigkeit der Heiligkeit im und um den Herrn geprägt hat. Das Bild der auf und ab steigenden Engel, oder hin und her wogenden Schallrufe, das man ja auch aus der Weihnachtsgeschichte kennt, das ängstigt, weil so erdrückend gewaltig, so dass die Engel erst einmal sagen müssen, fürchtet euch nicht, hat die ganze einschlägige Literatur und Bilddarstellung des Abendlandes zu diesem Komplex geprägt. Mir fällt ein eine Illustration in Dantes göttlicher Komödie. (Bild suche ich noch)

10   Das dreimalige Heilig (Tris-Hagion) samt dem kompletten Zitat in Vers 3 ist heute noch das Zentrum der so genannten Präfation, des Hochgebetes der katholischen Messe (Sanctus), Höhepunkt der Vorbereitung der Transsubstantiation in der Wandlung (Brot wird zum Leib Christi). Diese liturgische Rolle zeigt die überragende Bedeutung der Jesaja-Vision für das jüdisch-christliche Gottesbild und den Kult.

11   Jesaja biete sich zur Sendung an. Andere Propheten oder Figuren des AT, die der Herr als Mitarbeiter im Visier hatte, haben sich anfangs eher geziert oder dem Appell zu entziehen versucht (etwa Jonas). Demgegenüber erweist sich Jesaja nach der Berührung seiner Lippen durch glühende Kohle geradezu als eifriger Musterschüler. Wie deutet man das?

12   Welche gewichene Schuld, welche gesühnte Sünde ist gemeint in Vers 7?

13   Jesajas Vision lässt sich datieren: 736 v.Chr., "als König Usija starb". In dieser Zeit bedrängte das Assyrische Reich unter Tiglatpileser das jüdische Land. 722 kommt es zur Eroberung des Nordreiches, die gesamte jüdische Oberschicht wurde ins Exil geführt (Babylonische Gefangenschaft). Frage: Ist es denkbar, was in den Evangelien später gang und gäbe ist, dass erlebte Geschichte (Niedergang Jerusalems und des Tempels) im Berufungsbericht des Jesaja als prophetische Ankündigung und die eigentlich unverständliche Drohung des Herrn (selbst in Sodom und Gomorrha ließ er mit sich feilschen!), ohne Gnade bis auf den Stumpf auszuradieren, bekannt war und somit begründet in die Prophetie in Jes 6 Eingang gefunden hat?

14   Jesaja bedeutet Gott hilft (also die hebräische Urform des schwäbischen Gotthilf). Da spüre ich einen Widerspruch zu dem geradezu sintflutstrengen Hinweis des Herrn, Jesaja soll solange das Volk vorführen, bis es vollends getilgt sein werde. Irgendwas passt da oder verstehe ich da nicht.

15   Ich habe heute fast 10 Predigten evangelischer Theologen zu Jes 6 im Internet gelesen, vom Prof. Dr. Dr. bis zum Studenten. Alles nicht ganz so sehr berückend. Viele Wörter und Sätze. Offenbar ein schwer zugänglicher Text mit homiletischen Hürden. (Homilie = Die Kunst der Predigt, des Austauschs).

Und hier noch ein Bild von Hieronymus Bosch, dem Maler des ganz normalen Grauens, Wahnsinn, der Hölle, des Himmels, des Unwirklichen und des nur subjekitv Wirklichen.


Hieronymus Bosch, Gefallene Engel

(Alle Abbildungen aus Google Bilder)

Freitag, 10. Juni 2011

Joshua, Sohn der Maria


Lustiges Buch mit Hintersinn
Seit gestern lese ich Jesus liebt mich von David Safier. Zur Entspannung, sagte Madame mit besorgtem Blick, als sie mir das Buch gebracht hat.  In der Tat, ein lustiges Werk. Eine Marie und ein Joshua alias Jesus von Nazareth geraten in eine Liaison. Engel Gabriel spielt auch mit, als ev. Pfarrer. Und George Clooney, als Teufel. Als Jung-Zimmermann Joshua seinen ersten Auftritt hat - er muss den Dachstock im Hause von Marie´s Vater ausbessern - lässt der Autor die Marie sagen, der Zimmermann sähe ein bisschen aus wie die Bee Gees in ihren besten Zeiten. Speziell wie Barry Gibb. Wer weiß das noch? Edles schmales Engelsgesicht mit Bart, Jesusbart eben, so wie man sich Jesus mit Bart vorstellt.

Ich stelle mir Jesus nicht vor. Also nicht sooo. Früher schon. Gelockter Bartträger mit wärmenden Augen. Wie Barry Gibb. Mit Körpersprache in Slow Motion, stets zum Segnen und Heilen geöffnete Handflächen. Und mit bestimmter aber sanfter Stimme, die Worte meißelnd, eherne Sätze, den Zweiflern und Provokateuren immer ein Tempo voraus, wie die Schachspieler sagen.
Barry Gibb von den Bee Gees
Die moderne Bibelwissenschaft hat akzeptiert, dass alle Schriftquellen keinen anderen Schluss zulassen als diesen: Jesus war vom Lande, der Erstgeborene eines Mädchens mit 14 oder 15 Jahren, den sein Stiefvater Josef als Sohn angenommen hatte, samt seiner blutjungen Mutter als Ehefrau, damit die kleine Schöne nicht als Hure verschrien wird, die den Knaben ledig hatte, wie man im Schwäbischen sagt. Aus dem Sumpf von Schimpf und Schande wollte er das Mädele heraushalten. Großartiger Mann! Viel mehr Buben sollten Josef heißen. Und dann kamen noch einige weitere Kinder, Jesu Geschwister, von denen meine katholische Kirche aber auch gar nichts wissen will, obwohl sie den Apostel Jakobus, zu dem man (Bin eben mal weg) auf dem Camino nach Compostela pilgert, Herrenbruder nennt.

Das kann man überall in der Fachliteratur nachlesen. Nicht bei allen Autoren, aber bei sehr vielen. Der Konsens ist nicht vollkommen, aber angesichts der realhistorischen Kenntnisse jener Zeit naheliegend und kaum mehr aufzukündigen. Der katholischen Amtskirche sind diese Vorstellungen dennoch ein Gräuel, weil sie Jesus lieber unkörperlich als fleischlich sehen wollen. Manchmal glaube ich, dass man den Satz  Und ist Fleisch geworden aus dem Credo mit spitzer Zunge ausspricht, leicht pikiert, weil man es lieber sähe, wenn die Maria vielleicht gerade mal mit stillender Brust, aber eben nicht mit empfangender oder gar gebärender Vulva vorzustellen wäre.
Dieser Realitätsverlust zeigt sich auch in der geradezu klassischen Missdeutung von Unbefleckte Empfängnis. Landläufig denken die Leute, Jesus sei unbefleckt empfangen worden, Maria also von einem unaussprechlichen Vorgang verschont geblieben gewesen. Nachthemd an, Licht aus, stumme Balgerei, keine Flecken auf dem Leintuch. Dabei meint der dogmatische Begriff, dass Maria selbst im Schoße ihrer eigenen Mutter ohne Sünde empfangen und sündenfrei geboren worden sein muss. Lauter Gedanken von spitzfindigen Männern (herrliches Wortspiel: Spitz findigen...) mit neurotischer Beziehung zu Leib und Leben. Rein und abgehoben soll der Jesus sein, nicht von dieser Welt, sondern herab gekommen zu einem Pflichtgastspiel, um die Heilspläne seines Vaters mit den Menschen durch einen Opfertod umzusetzen.
Das wiederum ist mir ein Gräuel. Was ist das für ein Gott, der seinen Sohn zum Menschen macht, in welcher metamorphen Gestalt er Menschen fischen, also zum Glauben führen soll, um ihn dann sadistisch abschlachten zu lassen? Was haben sich die Glaubenshüter der ersten Jahrhunderte nicht gerauft um diese Festsetzungen: Nur Mensch, nur Gott, Mensch und Gott, eines Wesens mit dem Vater? Dafür sind Ketzer ernannt und ermordet, Kriege geführt, Völker unterjocht und Konkurrenten gemeuchelt worden.
Ein Gott, der seinen Sohn auf Opfertod-Reise schickt, ist ein antiker Gott. Spiegelbild menschlicher Horrorvorstellungen, ein Monster also. Diese Vorstellungen der damaligen Welt, die mir im Gegensatz zu den Klerikalneurotikern nichts bedeuten, weil sie mein Leben und meine Empfindungen und Hoffnungen nicht erreichen, gehören ins Archiv. Außerdem, so sagte mir einmal der Leiter des Kath. Bibelwerks in Stuttgart, außerdem sei die Sündenbockmoral der mesopotamischen und kanaanitischen Kulturen mit der Legende von Abraham und seinem Sohn Isaak religionsgeschichtlich erledigt. Vater Abraham sollte ja seinen Sohn schlachten, auf Gottes Geheiß, also nach damals üblicher Praxis, um die Götter milde zu stimmen angesichts eigener Schuld. Und da fällt ihm jemand in den Arm, und statt Isaak muss ein Böcklein dran glauben. Das weist auf eine Zeit zurück, in der dem Menschen bewusst wurde, dass die Kain-und-Abel-Methode, durch Totschlagen mit Frust fertig zu werden, ausgedient hat.

Jerusalemer Mann
um 60 n.Chr., rekonstruiert

Die deutsche katholische Bischofskonferenz meint, für Christen sei es unerheblich, wissen zu wollen wie Jesus zu Lebzeiten ausgesehen hat. Mich tät´s aber dennoch interessieren, weil es ohne einen lebendigen Jesus, der ausgesehen hat, gar keinen Christus nicht gibt, weder einen auferstandenen und in den Himmel gefahrenen, noch einen zur Rechten Gottes sitzenden und dereinst wiederkommenden Christus. Schließlich haben ihn ja seine engsten Freunde nach seinem Tod gesehen, wie es der Apostel Paulus den Korinthern aufzählt. Und wenn die ihn gesehen haben, dann müssen sie ihn ja wiedererkannt haben, weil er auch als Auferstandener so ausgesehen haben muss wie vorher. Sonst hätte ja jeder kommen können und sagen Ich bin es. Und Maria Magdalena hätte in jenem Baumgarten am frühen Morgen des Ostertages sagen müssen: Tut mir leid, Herr, du kannst das nicht sein. Mein Joshua sieht anders aus. War aber nicht so. Sie haben ihn alle erkannt, liest man. Mit den Augen. Thomas sogar beim Anfassen, mit den Fingern. Also muss er ausgesehen haben, ausgesehen wie vorher und nicht irgendwie geistig und auferstanden. Oder man hat sich das nur eingebildet, im Traum, im Rausch, im außer sich Sein, solche Phänomene gibt es ja immer wieder. Dann aber könnte man das Buch zuschlagen. Nein, nein, wenn Petrus und Paulus und die vielen anderen, vor allem auch diejenigen, die mit Jesus beim Essen lagen, Körper an Körper, die ihn eingeölt und massiert haben, wenn die ihn wiedererkannt haben nach seinem Tod, dann muss er ausgesehen haben. Einige haben sogar mit ihm Fische gebraten und gegessen, am galiläischen See, nach Ostern. Aber Hallo, seit wann essen Auferstandene? Oder ist das alles nur sinnbildlich zu verstehen? Dann könnte man die Bibel neben Rotkäppchen zurück ins Regal stellen. Oder?

Die englische Funkanstalt BBC hat anhand eines Schädelfundes aus dem Jerusalem zur Zeit Jesu einen Kopf restaurieren lassen, mit allen forensischen Profilertricks, die man heute so drauf hat. Heraus gekommen ist ein etwas derbes orientalisches Gesicht, mit Bart und struppeligen Haaren. Das muss nicht der Typus Jesus sein, könnte aber. Und ist wahrscheinlicher als die Barry Gibb-Variante.

Immer wenn ich in Neuffen den Gottesdienst spiele, sehe ich vorher ein Foto von Papst Benedikt, alias Joseph Ratzinger auf dem Tisch der Sakristei stehen. Es ist so ähnlich wie das hier abgebildete. Da sitzt der alte Mann in vollem Ornat auf einem Stuhl und schaut schiergar müde in die Kamera. Und dann denke ich: Das ist also momentan der Stellvertreter Jesu auf Erden, vorläufig letztes Glied der lückenlosen Kette von Päpsten, die begonnen hat mit dem Satz Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.

Ich bin überzeugt, dass mein Enkel Paule ratlos wäre, wenn ich ihm sagen würde:  Schau her Bub, das ist der Mann, der den Herrn Jesus vertritt in Rom. Paule würde sicher fragen: Hat Jesus auch so ausgesehen. Und dann müsste ich ihm sagen: Man weiß das nicht genau, weil es keine Bilder von damals gibt. Aber sooo ganz sicher nicht. Jesus war ein Kerle wie du, zuerst ein frecher Junge, dann ein starker junger Mann, manchmal wütend oder lustig, braun gebrannt und nicht immer gewaschen. Er hat in keinen Palästen gewohnt, war jahrelang mit seinen Freunden unterwegs wie ein Landstreicher und hat nicht mal einen Schlafsack gehabt. Vielleicht so wie Robin Hood. Er ist nie in die Schule gegangen, konnte nicht lesen und schreiben, war aber sehr klug. Und mutig. Und was er gemacht und gesagt hat, das sollten wir uns schon merken. Das hat Hand und Fuß. 

Mittwoch, 8. Juni 2011

Tageskarten im Juni

Die Tageskarten in diesen Tagen sind sehr vielfältig, weil ich alle Depots, Schränke und Gefrierschränke ausräume. Aus dem, was ich finde werden Spontangerichte komponiert, deren Rezepturen nicht immer für die Öffentlichkeit gemacht sind. Sonst heißt es Iiih, schmeckt das? - oder so.

Ein paar Kostproben:
(Arbeitsanleitungen  werden nachgereicht, wenn es jemand ausdrücklich wünscht. Dazu gibt es die Kommentare unten)

Gestern gab es einen Wurst-Käse-Semmelknödel Tiroler Art (aus restlichen Wecken, Schwarzbrot, Toastbrot, Rest Gelbwurst, Rest geriebener Bergkäse). Als Soße eine braune Butter, die ich aus Butterresten zusammengeschmolzen habe. Davor eine Kartoffelsuppe mit frisch gemachter Fleischbrühe aus einer Zwiebel, einem Rest Pellkartoffeln, einem Rest Paprikastreifchen, Mohrrüben aus der Fleischbrühe und geschmälzten Zwiebelstreifen samt dem kleingeschnittenen Siedfleisch aus dem Brühentopf.

Heute habe ich die restlichen Knödel in Scheiben angebraten, jeweils eine Tomatenscheibe darauf gelegt, unterm Deckel erwärmt und danach drei geschlagene Eier als Omelette dazwischen gegossen. Zwei Pfannen voll, alle weg. Und davor gab´s Spargelcremesuppe aus einem Knorr-Päckle mit Datumsgrenze.

Morgen werde ich was für den Paule machen, der wird mein einziger Gast sein. Wahrscheinlich Pfannkuchen. hat er schon lange nicht mehr gehabt und sich kürzlich gewünscht. Er darf dann zwei bis drei selber braten, wenn er von der Schule kommt. Er macht das schon ganz geschickt und kriegt dazu die etwas kleiner Pfanne, denn die große kann er noch nicht so gut in der Luft drehen. Und dazu gibt´s natürlich Nutella, Marmelade oder Zucker. Und irgendeinen (grünen) Salat dazu. Als Vorsuppe vermutlich Erbsensuppe aus der Erbswurst von Knorr und einer Handvoll Tiefkühlerbsen, mit Speckwürfelchen, kross ausgelassen und geröstet. Mit dem Fett kann man ein paar der Pfannkuchen machen. Vielleicht mache ich mir zwei mit Baconstreifen.

Etwas spannender wird´s in den Pfingstferien. Da kommt drei oder vier Mal Besuch.

Und was mache ich am Pfingstfest selber? Spätzle könnten mal wieder dran sein, Rouladen oder Geschnetzeltes oder Sahnepilze - aber die essen nicht alle meine Sippenmitglieder, leider. Offene Spiele also. Demnächst hier.

Montag, 6. Juni 2011

Wie der Geist weht wie er will

So früh wie heute Abend war ich noch nie dran. Die Vorabendmesse in Neuffen würde um 19 Uhr beginnen und um 20 Uhr beendet sein, falls der Pfarrer seinen Predigtfluss würde bremsen können. Er wird sich verspätet haben, weil er zuvor noch Gottesdienste in seinen anderen Gemeinden gehalten hat. Fünfzehn Minuten stehe ich am Gartentor, Madame fragt wie immer nach den Zeitmarken: Wann fängt´s an, warum gehst du jetzt schon, wann bist du wieder da?
Früher als sonst sitze ich im Auto und denke nicht an die Zeitmarken. Ein Gedanke hüllt mich ein, wie eine große Fahne, der ich im Wind zu nahe gekommen bin: Was werde ich heute spielen können, wird es wieder einmal geschehen, dass ich mich während des Orgelspiels angehoben fühle, als ob eine große Hand mich hoch und in den Wind trägt, der meine Einfälle flattern und wehen lässt, ohne dass ich mich um sie bemühen muss?
Zum ersten Mal seit facebook-Gedenken habe ich eine Stereotype vieler Facebook-Freunde bedient und gepostet, was ich sogleich tun werde und welche Gedanken mich begleiten:

Ich muss zuerst erklären, wie das geht mit dem Spielen, mit dem Orgelspielen im Gottesdienst. Meist habe ich zu beginnen mit einer kurzen Intrada, einem Präludium, das eben nur so lange zu dauern hat, bis der Priester und sein Gefolge vor dem Altar stehen und der Gottesdienst mit dem Gruß an die Gemeinde beginnen soll. Zwischen Vorspiel und Eröffnung singt die Gemeinde ein Lied, das Einzugslied, begleitet von der Orgel. Ich darf also zuvor nicht aus dem Vollen schöpfen, wie im evangelischen Gottesdienst. Ich muss liturgisch gleich zur Sache kommen.
Sechs bis zehn Lieder sind es meist insgesamt, je nach Art des Gottesdienste, je nach liturgischer Vielfalt und je nach Zeit im Jahreskreis (an den Fasten- und Adventssonntagen meist etwas spärlicher und musikalisch weniger üppig). Zum Schluss spielt man wiederum ein Orgelstück. Die Gemeinde zieht aus der Kirche. Manche Besucher bleiben sitzen und hören zu. Das ist freie Orgelmusik, so wie auch während des Abendmahls, der Kommunion, wie es auf katholisch heißt. Früher sagte man dazu "sub communione" spielen, und dazu gibt es sogar Kompositionen. Ich aber improvisiere fast immer diese Musiken, Vorspiele, Zwischenspiele, Nachspiele, im Stile von Praeludien oder Meditationen, unter Verwendung eines charakteristischen Liedmotivs. Fertige Orgelstücke passen oft zeitlich nicht und treffen auch nicht die Stimmung, die ich in der jeweiligen Phase des Gottesdienstes spüre.
Der Rest der Arbeit ist Schwarzbrot: Liedbegleitung, dazu ein Vorspiel (Intonation), dann eine oder mehrere Liedstrophen. Zur Liedbegleitung gibt es ein Orgelbuch mit fix und fertigen vierstimmigen Orgelsätzen. Damit tut jedes Lied und jede Strophe jedesmal gleich, außer man zieht einzelne Stimmen auf verschiedene Manuale oder ins Pedal und registriert jeweils anders. Das ist hohe Kunst und wird in gewöhnlichen Gottesdiensten in gewöhnlichen Kirchen selten gehört.
Schon lange spiele ich nicht mehr nach dem Orgelbuch. Mir genügt das Gesangbuch in Großdruck, damit ich die Melodie und die Texte der Strophen als Orientierung sehe. Den Satz zur Liedbegleitung improvisiere ich. Das heißt, er wird jedesmal neu gestaltet, wozu natürlich ein ganzer Sack voll Bausteine, die man im Laufe des Musikerlebens gefunden hat, zur Verfügung steht: Verschiedene Stimmführungstechniken, verschiedene harmonische Wendungen, verschiedene historische Anklänge, etwa Mehrstimmigkeit des Spätmittelalters, modale Mehrstimmigkeit der Renaissance, barocke Mehrstimmigkeit wie bei J.S.Bach, modernere Mehrstimmigkeit mit Quartschichtungen, polyphonen Dissonanzen, aus dem Mittelalter entlehnten Borduntechniken,  Wechsel zwischen klassischer Vierstimmigkeit, Dreistimmigkeit, Zweistimmigkeit und Unisono-Führung (alle Stimmen dasselbe in Oktaven, gerade für eine Orgel die typische Klangausrichtung), und - häufig im katholischen Lied - romantische Harmonik des 19. Jahrhunderts mit gefühlvollen Septakkorden, Doppeldominanten und verminderten Septakkorden.
Das jeweilige Liedvorspiel soll gewöhnlich kurz gehalten werden. Ich nehme mir jedoch die Freiheit, dort, wo es zeitlich möglich ist, ein Lied etwas länger einzuspielen, in der Art des Choralvorspiels. Welche Lieder ich zu begleiten habe, erfahre ich in Neuffen fünf Minuten vor dem Gottesdienst. Das ist auch nicht schlechter als in Nürtingen, wo man die Lieder wenigstens am Tag davor mitgeteilt bekommen soll - und sich dann doch die Hälfte ändert. Ich kenne aber nahezu alle Lieder und reagiere ohne Verzug.
Insgesamt nehmen die Kirchenbesucher kaum wahr, was man musikalisch so treibt im Laufe eines Gottesdienstes. Zumindest sagen sie es praktisch nie und geben auch sonst kein Zeichen, dass sie bemerken, was und wie man spielt. Am häufigsten sind Beschwerden: Zu schnell, zu langsam, zu hoch, ohne Rücksicht auf die Gemeinde bei Zäsuren und Atemstellen, richtige, aber für falsch gehaltene Phrasierungen. Und so weiter. Fast immer sind diese Mängelrügen gegenstandslos, weil die gemeindlichen Großsprecher - von denen kommen die meisten Vorhaltungen - keine Ahnung vom Singen und erst recht nicht von Musik haben. Außerdem bemängelt die eine Gemeinde, was die andere begrüßt. Deswegen wird mein Orgelspiel im Gottesdienst fast immer zu einer Art Innenschau: Was kriege ich heute hin, was höre ich, vorgelesen oder gepredigt, das mich inspiriert, welche Eindrücke regen mich an, Wetter, Licht, Tageszeit? Was blockiert mich? Das sind meistens familiäre Dinge, die ich gerade für zwei Stunden hinter mir gelassen habe. Was ging daneben, was ist unerwartet gelungen? Nur ganz selten erkenne ich Menschen da unten, die hören können. Die bleiben dann meistens auch sitzen oder kommen sogar am Schluss kurz auf die Empore zu einem kleinen Schwätz. Oftmals sind das auch Fremde, auf der Durchreise, Kurgäste, Familienbesuch.

Mit solchen Gedanken sitze ich also am Abend des 4. Juni 2011 im Auto und zuckle nach Neuffen. Zwanzig vor Sieben bin ich schon da, entere die Kirche, sehe die leeren Bänke und bin gerade im Begriff mit einem innerlichen Naja die Empore zu besteigen: Wenigstens die schöne Orgel erwartet mich. Das 12-Register-Instrument stammt aus der Werkstatt Vleugels in Hardheim, die vor sechs Jahren sogar dem Papst ein Instrument für seine Kapelle gebaut hat:
Kaum auf der Treppe stoppt mich ein silberhelles Stimmlein. Frau B. aus dem Nachbarort, die den Lektorendienst versieht und heute auch die Mesnerin vertritt, lässt sich quer durch die leere Kirche vernehmen: Kommen Sie nur wieder runter, wir machen heute den Gottesdienst in der Seitenkapelle, weil so wenig Leute kommen. Ach ja, mal was anderes, denke ich, dann halt keine Orgel.
Die Seitenkapelle ist eine rechteckige Nische in der Größe einer Zweizimmerwohnung mit Küche und liegt zwischen Kirchenschiff und Sakristei. Als Orgel hat man mir das hauseigene Klavier an die Seite geschoben. Ganz schnell arrangiere ich mich damit, hab´s ja schon öfters so gehabt in Neuffen. Auf dem Klavier begleite ich sehr gerne. Man kann besser artikulieren und die Sänger führen, vor allem bei modischen Liedern im Schlagerrhythmus. Mit der Orgel artikuliert man nur durch rechtzeitiges Absetzen oder Portatotospiel. Das Klavier hat einfach mehr rhythmische Möglichkeiten, und das tut den Liedern gut, auch den alten, die man heute meistens viel zu schlapp dahersingt.
Liederplan für den 4./5. Juni 2011
von Pfarrer Anselm Jopp,
Frickenhausen-Neuffen
In der Sakristei zieht sich gerade die kleine Ministrantin an, ein süßes Mädele, das gleich um die Ecke wohnt. Der Pfarrer kommt kurz vor knapp, das juckt aber niemand, denn in der Kirche sind erst zwei ältere Damen erschienen, die von der Lektorin sogleich in die Kapelle gelotst werden. Mehr Besucher würden es auch nicht werden heute, weil nämlich Seniorenausflug ist, und da ist der Stamm der Kirchenbesucher über alle Berge. Ich greife den Liedzettel vom Pfarrer: Aha, wieder mal ein paar Doubletten (er will dasselbe Lied strophenweise verteilt an verschiedenen Stellen). Aber was ist denn das: Lauter 200er-Lieder, acht mal, von Nummer 228 bis 245. Ich bin geradezu elektrisiert und setze mich hinters Klavier.

Eröffnung mit Lied 228 - Christ fuhr gen Himmel - ein Hymnus aus dem 12. Jahrhundert. Modal, in edler dorischer Tonart. Ist ja klar, vorgestern war Christi Himmelfahrt. Frau B. sitzt seitlich, die beiden Damen dem Altar gegenüber, die Glocke tönt, der Pfarrer tritt ein mit der lieblichen Ministrantin, die ein liturgisch abstraktes Engelsgesicht machen kann, so wie auf alten Bildtafeln. Das gefällt mir sehr gut und bewegt mich. Es ist das Reine und das Klare, das unseren katholischen Glaubensvollzug im Gottesdienst trägt - falls man ihn nicht zersägt durch Schlagergewinsel, Kindergeschrei und Ramba Zamba, um Menschen, vor allem junge Menschen in die Kirche zu locken. Gottesdienst als Event. Das ist nicht mein Ding.
Hier sitzen sechs unterschiedliche Menschen und feiern die Heilige Messe. Eine urkatholische Situation. Eine Messe mit allem drum und dran, klar, sauber, strukturiert, unverbraucht, ohne Abstriche, wie überall auf der Welt. Jeder der Anwesenden weiß, was jetzt eine Stunde lang geschieht. Nur was der Pfarrer in seiner Predigt sagen wird, das wissen wir noch nicht.
Der Pfarrer ist kurz vor seinem achtzigsten Lebensjahr. In der Sakristei hatte er sinniert: Ich habe mein ganzes Leben noch nie einen Gottesdienst ausfallen lassen, was sollen wir tun? Ich sagte: Herr Pfarrer, das ist Ihre Entscheidung, wir sind da und stehen bereit. Mich stört es nicht, wenn wenige Leute in der Kirche sind. Als Ministrant habe ich früher hunderte Mal Frühmessen ministriert, um 6 Uhr, um 7 Uhr, an allen Werktagen, mit niemandem in der Kirche außer dem Priester und wir zwei Messdiener und vielleicht zwei, drei Kopftuchweiblein in der ersten Bank. Da sagt der Pfarrer: Wir zelebrieren!
Aus dem Himmelfahrtslied entwickle ich ein Vorspiel. Herbe Quartenharmonik auf tiefem Bordun. Das mag ich, da atmen die Jahrtausende durch den Tonsatz, da spüre ich, was abendländische Musik ist, inspiriert und generiert aus frühmittelalterlichen und antiken Strukturen des östlichen Mittelmeerraumes. Erhebend und edel.
Die drei Frauen singen wie die Staren. Der Pfarrer singt mit. Die Mini-Maus guckt wie ein Engel. Und plötzlich muss auch ich mitsingen. Das mache ich sonst nie, bin da oben zu weit weg von der Gemeinde, und ich höre dann den Gesang nicht so gut, wenn ich mich beteilige.
Lied 228, Erste Strophe
Und dann spüre ich, wie es weht, wie es mordsmäßig weht in meinem Herzen. Meine Finger spielen alleine, die Melodiebögen federn frei rhythmisch, ohne Taktmaß, so wie seit tausend Jahren, und die Sänger und mein Instrument sind eins, ungeübt und lebendig und schön. Meine Augen werden nass, ich kann nicht mehr singen, muss auf die Noten achten, damit ich den Text richtig phrasiere.

Grüß Gott, schön dass sie da sind, sagt dann der Pfarrer, gerade wollte ich sagen "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind" ... aber wir sind ja sechs. Und so wollen wir gemeinsam diesen Gottesdienst feiern, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Mit dem Heiligen Geist hatte ich vor einer Stunde noch im Facebook kokettiert: Gell, Geist? Manche werden das bemängeln, zu ironisch, macht man nicht. Ich kann aber den Geist als einzigen der drei Wesensformen der Dreieinigkeit persönlich ansprechen, weil ich ihn mir vorstellen kann, so wie ich Elektrizität spüren kann, wenn ich das Drehmoment einen Elektromotors spüre beim Versuch ihn anzuhalten.
Zum Gloria singen wir die erste Strophe von 229 - Ihr Christen, hoch erfreuet euch, der Herr fährt auf zu seinem Reich. Ich hab es nicht so mit der Himmelfahrt. Das sind naive antike und heidnische Vorstellungen, an der Nahtstelle - heute sagt man Schnittstelle - zwischen hohen Hügeln und der Lufthülle des Planeten. Für mich ohne religiöse Relevanz. Ich stelle mir anstelle des Davonfliegens lieber das Durchdringen vor. Ich liebe Vorstellungen wie Osmose, Browne´sche Molekularbewegung und Diffusion. Ich bewundere die Kunst der Mayonnaise-Zubereitung, bei der sich sträubende Substanzen durch sensible Behandlung zu einer neuen Qualität verbinden. Ich liebe Legierungen und Lösungen, Homogenisierung und Teige und das Entstehen neuer Qualitäten durch Synthese. Dennoch, diese Vertikale der Himmelfahrt hat auch etwas, weil sie ja keinen Endpunkt markiert: Da steigt der Sohn empor zum Vater, und der gießt den Geist zurück, und so werden die Lebewesen der Erde berührt und entflammt vom ewigen Auf und Ab der Schöpfung, werden zu Teilhabern dieser Art Aufzug, den man bautechnisch nicht ohne Tiefsinn Paternoster nennt. Die Engländer sagen elevatorElevare, lateinisch, heißt heraushebennach oben heben.





Lied 229, erste Strophe
229 ist ein schlichtes aber schönes Lied, ganz in der Art der Blütezeit des klassischen Chorals aus dem 16. Jahrhundert. Vier Zeilen, vier Phrasen, A - A´ - A´´ - A´´´, noch ohne die geschlossene Form A - A- B - A´, wie zum Beispiel Nun danket alle Gott. Ich begleite klassisch, Akkord für Akkord, Note gegen Note, mit braver Kurzmodulation in die Dominante in der dritten Phrase.

Dann kommt die erste Schriftlesung. Frau B. liest aus der Apostelgeschichte, erstes Kapitel. Die Jünger Jesu harren im Obergemach eines Hauses in Jerusalem, zusammen mit den Frauen um Jesus, vereint im Gebet. Vermutlich eine Momentaufnahme, die Lukas zu einem Zustand ausbreitet. Danach Lied 241 - Komm, Heilger Geist, der Leben schafft. Und spätestens jetzt fällt bei mir der Groschen: Der Pfarrer zieht die Pfingstthematik um eine Woche vor, warum auch immer. Himmelfahrt und Geistausschüttung sieht er ineins, dieser Gottesdienst schafft den Zusammenhang.
Der berühmteste und wohl älteste unter den überlieferten lateinischen Hymnen ist Veni, Creator Spiritus, gedichtet von Hrabanus Maurus, zur Zeit Karls des Großen (ca. 800 !!), geläufig unter Komm, Schöpfer Geist (Heinrich Bone, 19. Jhdt.). Die gregorianische Melodie dürfte gleich alt sein, ist aber erst 150 Jahre später belegt:
Lied 240, lat. Original zu Lied 241
Eine wörtliche Übertragung von Martin Bachmeier:

Komm, Schöpfer Geist, die Gesinnungen der Deinen besuche;
erfülle mit oberer Gnade die Herzen, die Du geschaffen hast!

Der Du der Beistand genannt wirst, des höchsten Gottes Geschenk,
lebendige Quelle, Feuer, Liebe und geistliche Salbung.

Du Siebengestaltiger im Amt, Finger der väterlichen Rechten,
Du nach heiligem Brauch Versprochenes des Vaters, mit Rede bereichernd die Kehlen.

Zünd’ an das Licht den Sinnen, gieß’ ein die Liebe den Herzen,
das Schwache unseres Leibes stärkend durch ununterbrochene Tugend!

Mögest den Feind weiter zurückstoßen und den Frieden sofort schenken!
Mit Dir so als vorausgehendem Lotsen mögen wir alles Schädliche meiden!

Gib, dass wir durch Dich den Vater verstehen und auch den Sohn erkennen
und an Dich, beider Geist, zu jeder Zeit glauben!

Gott, dem Vater, sei Ehre und dem Sohn, der von den Toten
auferstanden ist, und auch dem Beistand in die Zeitalter der Zeitalter!

Und hier eine dreistimmige Komposition von Magister Perotinus aus der Kirche Nôtre Dame in Paris, ca. 1200, Anfänge der Mehrstimmigkeit in Europa. Die Hymnusstimme wird von zwei anderen Stimmen umspielt. Es entstehen Konsonanzen und Dissonanzen, die sich immer wieder am Ende der Zeile in die Oktave auflösen ("herbe" Mehrstimmigkeit, auf der Orgel exzellent nachzuempfinden):

Mit einem Schlag wird mir wieder bewusst, was, wer der Geist ist. Er ist die göttliche Kraft, die erschafft, verwandelt, bewegt, überrollt, trocken legt und neu bewässert. Das Kraftwerk Gottes. Gott selbst als Kraftwerk. Wir Menschen können uns die kompakte Universialität Gottes nicht vorstellen. Wir zerlegen sie in drei leichter fassbare Personen, die doch nur einer sind und eine IST. So wie wir den Raum in Länge, Breite und Höhe zerlegen, die aber je einzeln nicht die Fülle beschreiben können, die der Raum selber ist.
Jetzt hat er mich berührt, der Geist. Und ich sitze doch nur an einem Klavier neben drei Frauen, einer aufknospenden kindlichen Schönheit und einem alten Pfarrer, der mich schon seit 1960 kennt, als ich, sechzehnjährig, ihm in seinem VW-Käfer auf die Dörfer zu folgen hatte, wo er in der Diaspora, die er alsbald kräftig entwickelt und aufgebaut hat,  seine Messen las. Hallo, Geist, denke ich schüchtern und lasse den Hymnus perlen. Eine geniale Melodie, ohne Notenwerte notiert, frei rhythmisch atmend, Zwilling der atmenden Seele, die im Ein und Aus strömt und stockt, horcht und singt. Zwei Strophen nur, und dann kommt das Evangelium.

Johannes 17, 1-11a. Oh Gott, denke ich, Johannes, das Evangelium ohne jede historische Güte, reine, bereits vom Hellenismus geprägte Theologie, schon ordentlich abgehoben vom Original aus Galiläa, als Jesus noch mit den Pharisäern diskutiert hatte über die rechte Art, die Gesetze der Thora mit menschlicher Vernunft und der kindlichen Liebe zum Vatergott ineins zu bringen und so das Leben zu ermöglichen.
Der Pfarrer meint, er wolle nur kurz was dazu sagen. Es wird aber doch etwas mehr, weil ihn die Begeisterung mitnimmt, und da kappt er gleich jeder wissenschaftlichen Textkritik die Spitze: Hier fasst Johannes die Kernaussagen Jesu zu einer Rede zusammen, ein literarischer Kunstgriff. Richtig, in der Tat, diese so genannte Abschieds- oder Vermächtnisrede Jesu ist so nie gehalten worden, sie ist reine Literatur. Damit kann aber ihr Inhalt nicht in Frage gestellt werden, ebensowenig, wie man erwarten darf, dass ein schriftliches Testament die komplette Biografie eines Verstorbenen aufblättert - aber eben doch seine Grundlinien offenlegt.
Und das sagt ein alter Pfarrer, der nicht im Verdacht steht, modische Theologenhüte zu tragen. Diese Sätze im 17. Johannes-Kapitel sind wie ein Grundgesetz. Reine Theologie, mit 80-jährigem Abstand zum realen Leben Jesu. Eine Deutung, eine Ausdeutung, eine Systematisierung. Meine Gedanken purzeln herab, parallel zur Predigt. So redet niemand über sich selbst: Vater, verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche. Und das folgt in diesem Johannes-Text immerfort, in mehreren Varianten, als ob Johannes um die treffendste Benennung dessen ränge, was in ihm ist und sich nicht dem schlichten Wort fügen will, das alleine zur Verkündigung für viele taugt. Aber kann damit nicht gemeint sein: Zwischen mir Mensch und dir Gott sind kraftvolle Felder, wie die der durchflossenen Spule, die den Elektromotor mir aus den Händen treibt, wenn ich ihn anhalten will, und ich stoße empor zu dir, und du schickst deinen Strahl nach unten, will sagen zu uns, denn wo ist oben und unten in der Raumzeit? Und dieser Strahl versiegt nie, wie Franz Werfel dichtete (bald im BLOG), und in dieses Spannungsfeld durch uns und mit uns und in uns wird der Raum der Schöpfung aufgespannt, deine Idee des immerwährenden Seins, aus dem alles ist, das du selber bist, und wir mit dir, aus dir, von dir und in dir. Ich nehme an (im doppelten Wortsinn), dass Jesus solche Worte nie verkündet hat, dass aber alles, was er tagtäglich tat und sagte, im Alltag, in der Synagoge, im Gespräch, als Kommentar, als Bemerkung, ironisch wohl oft, und bissig manchmal oder provokant, sich auf diesen Nenner bringen lassen kann, den der Schriftsteller Johannes literarisch gestaltet, um ihm verbindliche Größe zu geben.
Diese Einsicht fliegt mir in diesem Moment zu! Unerwartet, unverhofft, unvorbereitet, geradezu stürmisch, erhellend und reinigend.
Der Pfarrer kommt in Fahrt. Ewiges Leben, sagt er, ewiges Leben umschreibt keine Dauer, keinen Anfang und Ende, keinen Verlauf. Ich sitze senkrecht, denn diese Fragen habe ich schon zig Pfarrern gestellt. Pfarrerinnen noch nicht. Und immer haben sie sich gewunden und entzogen, wie ein glitschiger Fisch, dem das Wasser genügt, weil er von Erde, Luft, und Feuer nichts wissen will. Ewiges Leben, sagt der Pafrrer, ewiges Leben bedeutet, Anteil bekommen am Leben des Ewigen. Für mich heißt das wiederum nichts anderes als geöffnet werden dürfen für die Erkenntnis des Großen Ganzen, erfahren, was die Mystiker Schauen genannt haben. Und Jesus ist der bäuerliche, naive, glaubwürdige Mittler dieser einfachen Art, mit und in Gott zu sein, ohne Theologie, ohne Konstrukte, einfach im Hinatmen zu dem, was uns anatmet, aus allen Enden und Ecken, oft und manchmal auch nicht, verstellt und offen, Sehnsucht anzündend und Resignation hinterlassend, aber virulent und vital, ohne Kenntnis vom Wann, vom Wo und vom Wie, ohne Gewähr oder gar Sicherheiten, wie die Banker sagen. So wie jetzt. In dieser Stunde!
Heiliger Geist, was tust du? Was tust du, durch und mit diesen fünf Menschen, die mit mir hier sind, beim Vollzug des Mysteriums vom Teilen des Lebens, von Fortpflanzen und Zellteilen, von Sterben und Hingeben der Trägermoleküle, vom Wettern und Verwittern, indem der Pfarrer nämlich gleich sagen wird: Das ist mein Leib, das ist mein Blut, nehmt es als Bekräftigung, dass es so ist, und als Kräftigung, auf diesem holprigen Weg nicht aufzugeben. Nach dem Gottesdienst wird er sagen: Morgen habe ich drei Taufen, es kommen wieder Kinder, wie schön!
Und dann zitiert er seinen Namenspatron, Anselm von Canterbury, einen Piemonteser, der später in England wirkte, zur selben Zeit als der Hymnus Veni Creator populär geworden war. Von Anselmus, Kirchenlehrer und heilig gesprochen, stammen ein paar Kernsätze, die die abendländische Theologie und Philosophie maßgeblich beeinflusst haben. Der Pfarrer zitiert den ersten:
Fides Quaerens Intellectum - Der Glaube ist auf der Suche nach Einsicht (Verständnis, Einklang mit der Vernunft).
Es wird mir, als ob eine Spange um mein Herz zerspringe: Danach habe ich immer gesucht und gefragt, damit bin ich immer abgeblitzt bei den Predigern und Theologen. Meine Bitte, Kann man denn nicht glauben ohne den Verstand zuhause lassen zu müssen? haben sie mit Gelaber und Versatzstücken beantwortet wie Glauben heißt nicht wissen. Was für ein Blödsinn! Was ist mir ein Glaube, der Augen zu, Ohren zu, Mund zu voraussetzt. Wozu nützt ein Glaube, der blutleere Weisheiten aufzählt, der seine Glaubenden zu Marionetten des Überichs macht, gesteuert von Autoritäten, die dadurch ihre Pfründe sichern?
Zuhause suche ich nach Anselmus und finde zwei weitere Sätze:
Credo ut intelligam - Ich glaube, damit ich begreife,
und Anselms Ansatz zum ontologischen Gottesbeweis:
Aliquid quo maius nihil cogitari potest -  Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.

Endlich! Ich bin zu unbelesen, um über diese Sätze urteilen zu können. Aber sie dringen mir ins Herz, als ob ich auf sie gewartet hätte. Und ich weiß, dass auch sie sich verwandeln werden und mir nicht als eherne Türsteher dienen werden.

Der Pfarrer spricht weiter: Jesus predigt nicht den individuellen Weg. "Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind" ist keine elitäre Beschränkung. Diese Zahlen sind keine Nummern sondern eine Andeutung, so verstehe ich jetzt: Spielbar schon in kleinster Besetzung, wie die Musiker sagen, aber auch im Tutti. Der Weg, sagt der Pfarrer, gehe in drei parallelen Spuren: aus dem  Gebet, durch die Sakramente und in Gemeinschaft.

Jetzt eilt der Gottesdienst nur so vorüber. Lauter Lieder vom Heiligen Geist, zum Heiligen Geist. Bis zum Schluss. Ich mache ein Nachspiel, das mir förmlich zufliegt: Komm Schöpfer Geist, kehr bei uns ein! Der Pfarrer zieht aus mit dem ministrierenden Engel, Frau B. räumt sofort den Altar auf, und die beiden Damen gehen schwerfällig an meinem Klavier vorbei. Sie nicken mir freundlich zu und streben zum Ausgang. Ich könnte mich jetzt verlieren in Variationen aus der Tonart G-Dur. Zwei Minuten noch, dann schließe ich. Mit dem tiefen G. Noch beim Schließen des Deckels klingt der Ton im Kirchenraum nach.
Ein kurzes Tschüss in der Sakristei. Der Pfarrer ist schon auf und davon, das Engelchen hängt seine Kutte in den Schrank. Frau B. wuselt hier und dort. Und dann steige ich ins Auto.

Was war das?

Hergefahren bin ich mit dem Gedanken, vielleicht gelingt mir mal wieder was auf der Orgel, mit dem ich zufrieden bin. Vielleicht inspiriert mich was. Und der Geist hat mich geradezu überfallen, eine Woche vor Pfingsten, hat mir eingeschenkt bis zum Überlaufen. Er hat nicht gewartet. Weil er weht, wann, wo und wie er will. Und schon weht er woanders. Alles ist wie zuvor. Nur drinnen, da glimmt etwas und wartet, bis der nächste Anhauch die Flammen wieder aufzüngeln lässt.
Danke, Geist!